Kontakt mit dem britischen Geheimdienst in den Niederlanden - Als Hauptmann Schemmel nach
Den Haag - Oberstarzt de Crinis und ich vertreten die deutsche Opposition - Reaktion
der britischen Regierung - Überfall in Venlo
Unterdessen war es Mitte Oktober 1939 geworden. Über meine Arbeit in Dortmund - die neu aufzubauende Abwehr an der Ruhr sowie den Spionagefall des polnischen Werkmeisters - hatte ich Heydrich ausführlich Bericht erstattet. Er war meinen Ausführungen sehr aufmerksam gefolgt. Plötzlich wurde er nervös und drängte zum Ende. "Ich habe noch eine andere Aufgabe für Sie", erklärte er in seiner kurzen, abgehackten Weise. "In Holland läuft seit einigen Monaten eine interessante Agentenverbindung unmittelbar zum Secret Service. Es ist jetzt der Augenblick gekommen, wo wir uns entscheiden müssen, ob wir diese Verbindung durch Lieferung weiteren irreführenden Nachrichtenmaterials aufrechterhalten und noch tiefer in den englischen Geheimdienst eindringen oder ob wir den Fall schon jetzt abschließen wollen." Heydrich ersuchte mich dann, dieserhalb unverzüglich mit dem Amtschef VI, dem damaligen Verantwortlichen für den politischen Auslandsnachrichtendienst, Fühlung zu nehmen, die Akten einzusehen und ihm klare Vorschläge zu machen. Es handelte sich um folgenden Sachverhalt:
Seit einigen Jahren arbeitete in den Niederlanden der deutsche Geheimagent F.479, ein Emigrant, der sich schon kurze Zeit nach seiner Auswanderung unserem Nachrichtendienst zur Verfügung gestellt hatte. Es war ihm gelungen, Kontakt mit dem englischen Geheimdienst zu gewinnen und diesem unser Irreführungsmaterial zuzuspielen. Vor allem hatten Berichte über eine angebliche Oppositionsgruppe innerhalb der deutschen Wehrmacht beim Secret Service Interesse erweckt.
F.479 hatte sein Unteragentennetz so ausgebaut, dass er auch zum Deuxième Bureau gute Beziehungen unterhielt.
So war es ihm schon im Jahre 1938 geglückt, dem französischen Nachrichtendienst Irreführungsmaterial
über die Münchener Viererkonferenz zuzuleiten. Dieses Material hatte ich damals ausgearbeitet, es lief durch
alle Kanäle des deutschen Geheimdienstes in die europäischen Großstädte. Wie die Memoiren des
ehemaligen Außenministers George Bonnet in seinem Buch La Fin d'une Europe bestätigen, gelang es auf diese
Weise, Paris glauben zu machen, Deutschland habe jede Kriegsabsicht fallen lassen. Nach Kriegsbeginn berichtete nun
F.479, dass der Secret Service mehr denn je an der Kontaktaufnahme mit einer deutschen Oppositionsgruppe interessiert
sei, die ernsthaft auf den Sturz Hitlers hinarbeite. Das Nachrichtenspiel war bereits so weit gediehen, dass die
Engländer auf eine unmittelbare Besprechung mit einem maßgebenden Vertreter dieser Oppositionsgruppe warteten.
Walter Schellenberg 1937 (links) und 1938
Quelle: National Archives, College Park, MD
Auf Grund der Akteneinsicht schlug ich Heydrich vor, das Nachrichtenspiel noch nicht abzubrechen. Ich erbot mich, als aktiver Wehrmachtshauptmann in der Transportabteilung des OKW unter dem Namen Schemmel zu einem Treffen mit den Vertretern des englischen Geheimdienstes nach Holland zu fahren. Der Name Schemmel war keineswegs aus der Luft gegriffen. Es gab in der Tat einen Offizier solchen Namens, der auch in der Transportabteilung des OKW tätig war, aber natürlich nichts von seinem Doppelgänger ahnen durfte. Heydrich ließ ihn deshalb auf eine längere Dienstreise nach dem Osten schicken.
Mir war bewusst, dass der Plan der Beginn einer hochpolitischen Angelegenheit war, die sehr aufmerksam von London aus verfolgt wurde. Es durfte mir auch nicht der geringste Fehler unterlaufen, um die Engländer ja nicht misstrauisch zu machen. Ich hatte mir deshalb einen genauen Bericht über die Lebensweise des richtigen Herrn Schemmel anfertigen lassen. Unglücklicherweise trug er ein Monokel - also hatte ich von nun an, um mich bereits daran zu gewöhnen, auch eins zu tragen. Ferner informierte ich mich über alle Einzelheiten der deutschen "Opposition", lernte die Namen aller Personen wie auch die Sachzusammenhänge auswendig. Dann zog ich nach Düsseldorf in ein Haus des Geheimdienstes, um der niederländischen Grenze näher zu sein. Inzwischen hatte es ein Mitarbeiter übernommen, F.479 den Besuch des Hauptmanns Schemmel aus dem OKW anzukündigen und das Treffen mit den Offizieren des Secret Service vorzubereiten.
Am Abend des 20. Oktober 1939 kam endlich die Antwort; "Treffen am 21.10. in Zutphen, Holland, verabredet." Ein Mitarbeiter sollte mich begleiten; er war in den gesamten Sachverhalt eingeführt worden. Noch einmal überprüften wir unsere Pässe, unsere Wagenpapiere und vergewisserten uns, dass die deutschen Zoll- und Polizeibeamten am Grenzübergang benachrichtigt waren.
Früh am nächsten Morgen fuhren wir mit dem Auto zur holländischen Grenze. Es war ein trüber niederrheinischer Herbsttag mit einem grauen, regenverhangenen Himmel. Der Grenzübergang machte keine Schwierigkeiten. Die holländischen Zollbeamten waren zwar recht genau, doch ging alles glatt vonstatten. Am Treffpunkt in Zutphen erwartete uns bereits ein geräumiger Buick. Wir fuhren dicht an das Auto heran, stiegen aus und stellten uns mit ein paar allgemeinen Redewendungen vor. Dann setzte ich mich neben den englischen Captain Best, der den Buick steuerte und übrigens auch ein Monokel trug. Mein Begleiter folgte mit unserem Wagen. Captain Best sprach glänzend Deutsch und schien auch Deutschland sehr genau zu kennen. Wir fanden bald recht guten Kontakt zueinander, insbesondere durch ein Gespräch über Musik. Er plauderte so anregend, dass ich beinahe vergaß, zu welchem Zweck ich eigentlich diese Reise unternommen hatte. Erst als wir Arnheim erreicht und Major Stevens und Leutnant Copper sich zu uns gesellt hatten, wurde der wirkliche Anlass meines Besuches angeschnitten.
In deutschen höheren Offizierskreisen, so leitete ich ein, bestehe in der Tat eine starke Opposition gegen das Hitlerregime. Ich sei nun als ihr Vertreter entsandt worden. Den Namen des Oppositionsführers, es handele sich um einen General, könne ich allerdings im Augenblick nicht preisgeben. Ziel der Opposition sei es, Hitler gewaltsam zu beseitigen und eine neue deutsche Regierung zu bilden. Nun gehe es darum, zu klären, welche Haltung die britische Regierung einer durch die Wehrmacht kontrollierten Reichsführung gegenüber einnehmen würde und welche geheimen Zusicherungen sie für einen möglichen Friedensvertrag zu geben bereit sei. Die britischen Offiziere erklärten mir, die Regierung in London habe ein echtes Interesse an allen Bestrebungen, Hitler zu stürzen, und lege größten Wert darauf, dass eine Ausweitung des Krieges vermieden und so bald wie möglich Frieden geschlossen werde. Der englische Geheimdienst biete hierfür jegliche Unterstützung, er sei allerdings nicht legitimiert, schon jetzt politische Abmachungen zu treffen. Man hoffe aber, bis zur nächsten Zusammenkunft bindende Erklärungen seitens der britischen Regierung vorlegen zu können. Man stehe dieserhalb bereits mit dem Foreign Office in Verbindung, das seinerseits das britische Kabinett informiere.
Die Vertrauensbasis schien gewonnen. Wir einigten uns auf eine neue Besprechung zum 30. Oktober, die dann in der Zentrale des Secret Service im Haag stattfinden sollte. Auf der Gegenseite legte man dabei besonderen Wert darauf, dass zu diesem Treffen auch der Oppositionsführer oder als prominenter Vertreter ein General erscheine. Daraufhin verabschiedeten wir uns.
In der gleichen Nacht fuhr ich nach Berlin, um dort Bericht zu erstatten. Auf Grund meiner Darstellung wurde beschlossen, das Spiel weiterhin fortzusetzen. Während der nächsten Tage verbrachte ich einen Teil meiner freien Zeit im Hause meines väterlichen Freundes Professor
de Crinis, des Direktors der Psychiatrischen Abteilung der Charité. Seit Jahren verkehrte ich wie ein Sohn in seinem Hause - und warum sollte ich ihn, so fragte ich mich, nicht in das Holland-Unternehmen einweihen und seinen Rat erbitten? De Crinis war gebürtiger Österreicher und aktiver Oberstarzt der Wehrmacht. Es kam mir jetzt auch der Gedanke, de Crinis könne mit nach Den Haag fahren und die Rolle der "rechten Hand des Oppositionsführers" übernehmen. Er war eine große, vornehme Erscheinung, politisch versiert und von beachtlicher Allgemeinbildung. Hinzu kam sein österreichischer Akzent, der gewiss eher Vertrauen als Verdacht erwecken würde. De Crinis erklärte sich auch sofort bereit, mitzumachen.
Am 29. Oktober brachen wir wieder in Richtung niederländische Grenze auf. Zuvor verabredeten wir noch eine Zeichengebung für den Gang der Verhandlungen: Sollte ich mein Monokel mit der linken Hand aus dem Auge nehmen, so bedeute dies für ihn, das Gespräch sofort zu unterbrechen und an mich zu übergeben. Sollte ich es mit der rechten Hand berühren, dann möge er mich in dem Verhandlungsgespräch unterstützen. Im Falle aber, dass ich über starke Kopfschmerzen zu klagen begänne, wäre das ein Zeichen, die Unterredung überhaupt abzubrechen.
Pünktlich um 12 Uhr mittags trafen wir in Arnheim an der verabredeten Straßenkreuzung ein. Von unsern Partnern war jedoch nichts zu sehen. Wir warteten eine halbe, eine dreiviertel Stunde. Dann schlug ich vor, die Straße einmal entlangzufahren. Aber auch dies blieb ohne Ergebnis. De Crinis wurde schon ein wenig nervös, zumal plötzlich zwei holländische Polizeibeamte auftauchten und langsam auf unseren Wagen zukamen. Einer von ihnen fragte uns, was wir hier wollten. Wir antworteten, wir erwarteten Bekannte. Die Polizisten sahen sich misstrauisch an und meinten, es wäre ganz gut, wenn wir erst einmal mit zur Polizeiwache kämen.
Nun sah alles so aus, als ob wir in eine Falle gelockt worden wären. Es hieß jetzt, vor allem Selbstkontrolle bewahren. Trotz unserer Proteste wurden wir auf der niederländischen Wache in wenig höflicher Weise einer Leibesvisitation unterzogen. Hernach kam unser Gepäck an die Reihe. Jeder, auch der geringste Gegenstand, wurde äußerst kritisch geprüft. Blitzschnell überflogen meine Augen das ausgebreitete Gepäck. Zu meinem Schrecken sah ich in dem geöffneten Reisenecessaire meines Begleiters eine Rolle Aspirin mit der Aufschrift SS-Sanitätshauptamt. Schnell schob ich ein paar Dinge aus meinem Gepäck in die Nähe des verräterischen Gegenstandes. Dann ein prüfender Blick zu den Polizisten und ein Griff nach der Packung. Zugleich ließ ich eine Bürste fallen, stieß mit dem Fuß dagegen, bückte mich und würgte die Pillen mitsamt dem Papier herunter.
Nun begann ein Verhör - woher, wohin, welche Freunde wollen Sie treffen? Was wollen Sie mit diesen besprechen? Und so weiter. Ich erklärte, ohne einen Rechtsbeistand nichts auszusagen. Dabei wurde ich bewusst frech und erzielte damit auch eine gewisse Wirkung. Nach einigem Hin und Her ging plötzlich die Tür auf und Leutnant Couper kam herein. Er legitimierte sich, und alles Misstrauen seitens der Holländer war im Handumdrehen verflogen. Draußen warteten Major Stevens und Captain Best. Es folgten höfliche Worte der Entschuldigung - die Geschichte sei ihnen sehr peinlich, und alles beruhe nur auf dem Versehen, den Treffpunkt verwechselt zu haben. Mir war natürlich klar, dass unsere britischen "Freunde" dies alles nur veranlasst hatten, um vollkommen sicherzugehen.
Am Nachmittag erreichten wir Den Haag. In der Dienststelle von Major Stevens begann nach einer kleinen Erfrischung sogleich die Verhandlung. Wir einigten uns auf folgende Punkte: Beseitigung Hitlers und seiner engsten Mitarbeiter; sofortiger Friedensschluss mit den Westmächten; Wiederherstellung der österreichischen, tschechoslowakischen und polnischen Selbständigkeit; Aufgabe der deutschen Autarkie und Planwirtschaft sowie Rückkehr des Reiches zum Goldstandard. Man verkannte andererseits nicht, dass dem deutschen Bevölkerungsüberschuss ein Notventil geöffnet werden müsse, möglicherweise durch Rückgabe der Kolonien.
Das Ergebnis dieser Aussprache wurde schriftlich niedergelegt und diente als Grundlage für ein Telefongespräch, das Major Stevens mit seiner Londoner Zentrale führte. Nach etwa einer halben Stunde kam er zurück und erklärte, London stehe dem bisherigen Verhandlungsergebnis positiv gegenüber; es müsse jedoch noch mit Außenminister Lord Halifax gesprochen werden, man könne aber im Laufe des Abends mit einer Entscheidung rechnen. Wichtig sei indessen auch unsere bindende Zusage, nämlich die endgültige und termingebundene Entschließung der deutschen Opposition.
Die Konferenz hatte etwa dreieinhalb Stunden gedauert, und ich hatte inzwischen wirklich, trotz des verschluckten Aspirin-Päckchens, Kopfschmerzen bekommen. Deshalb war ich während des Telefonats von Stevens einen Augenblick auf den Flur gegangen, wo sich eine Waschgelegenheit befand. Ich ließ mir gerade das kühlende Wasser über die Pulsadern laufen, als plötzlich Captain Best unvermutet hinter mir stand. "Tragen Sie immer ein Monokel?" fragte er mich, wie mir schien, ein wenig zu betont. Es war gut, dass ich den Kopf über das Waschbecken geneigt hielt und mein Gesicht von ihm abgewandt war. Ich spürte nämlich, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Dann fasste ich mich aber schnell und entgegnete: "Denken Sie, die gleiche Frage wollte ich auch schon an Sie richten." Wir lachten beide.
Anschließend fuhren wir in die Wohnung eines holländischen Mitarbeiters von Captain Best. Wir erfrischten uns und zogen uns in Ruhe um, denn zum Abendessen waren wir in Bests Privatwohnung eingeladen. Nun erschien auch Stevens wieder und erklärte, er habe soeben von London eine zustimmende Antwort bekommen. Aus der anschließenden Unterredung wurde mir klar, dass England den Krieg gegen Hitler als eine Sache auf Tod und Leben ansah und entschlossen war, ihn unter allen Opfern bis zum Ende durchzufechten.
Best hielt eine nette kleine Tischrede, die mein Freund de Crinis mit echtem Wiener Charme beantwortete. Das Abendessen war ausgezeichnet - selten habe ich so frische und schmackhafte Austern gegessen. Auch der Wein war von auserlesener Güte. Gegenseitige Trinksprüche wurden gewechselt. F.479, der auch eingeladen war, bedeutete mir unauffällig, dass wir mit dem bisherigen Ergebnis sehr zufrieden sein könnten.
Am folgenden Morgen traf ich mit de Crinis im Badezimmer zusammen; er meinte in seiner gemütlichen Wiener Art: "Mei mei, haben die ein Tempo vorgelegt..." Wir genossen dann noch das reichhaltige holländische Frühstück, das eine gute Grundlage für die letzte Besprechung bildete. Diese fand in den Geschäftsräumen der holländischen Firma N. V. Handelsdienst voor het Continent im Nieuwe Uitleg 15 im Haag statt. Es war dies eine Tarnfirma des englischen Secret Service. Hier übergab man uns noch ein englisches Sende- und Empfangsgerät, und es wurde ein Spezialkode verabredet. Das Rufzeichen war ON 4. Von Leutnant Copper erhielten wir überdies eine Bescheinigung, in der alle holländischen Dienststellen ersucht wurden, dem Inhaber zu erlauben, eine geheime Telefonnummer im Haag anzurufen. Ich glaube, es war 55 63 31. Wir sollten von nun an gegen unangenehme Überraschungen gefeit sein. Captain Best begleitete uns noch bis in die Nähe der deutschen Grenze. Den nächsten Termin wollten wir auf dem Funkweg vereinbaren.
Nach Berlin zurückgekehrt, schlug ich vor, durch weitere hinauszögernde Verhandlungen unter Einschaltung eines zuverlässigen Generals die Sache weiterzutreiben und möglichst bis London vorzudringen. In meinem Innern spielte ich mit dem Gedanken, vielleicht doch noch einen tragbaren modus vivendi herauszufinden; die Sache war aber bereits zu weit gediehen.
Die Funkverbindung mit unseren englischen Partnern funktionierte ausgezeichnet. Innerhalb einer Woche hatten sie dreimal nach dem nächsten Besprechungstermin gefragt. Ich war inzwischen nach Düsseldorf zurückgekehrt und wartete seither vergeblich auf eine neue Weisung aus Berlin. Es drohte nun die Gefahr, dass der Faden abriss. Ich entschloss mich deshalb, eigenmächtig zu handeln, und verabredete ein kurzes Treffen für den folgenden Tag. Wir einigten uns auf ein in der Nähe der Grenze gelegenes holländisches Cafe, Zeitpunkt 7.11.39, nachmittags zwei Uhr.
Best und Stevens waren pünktlich erschienen. Die Absicht des Treffens auf meiner Seite bestand darin, die Gegenseite zu beruhigen, denn ich merkte, dass sie ungeduldig wurde. Ich erklärte nun, dass die deutsche Oppositionsführung noch über die bisherigen Vorschläge berate. Es würde wohl darauf hinauslaufen, dass der führende deutsche General sich entschließe, gemeinsam mit mir nach London zu fliegen, um die Verhandlungen auf höchster Ebene weiterzuführen und abzuschließen. Best und Stevens begrüßten dies und versicherten, dass schon vom nächsten Tage ab auf dem holländischen Flugplatz Schiphol eine Sondermaschine ständig für diesen Zweck bereitgehalten werde.
In Düsseldorf erhielt ich auf Rückfrage aus Berlin den Bescheid, Hitler habe sich noch nicht entscheiden können, wie der Fall weiter zu behandeln sei; er neige mehr dazu, den Faden nunmehr abreißen zu lassen. Doch mich reizte das Spiel, und so nahm ich wieder die Verbindung mit dem Haag auf und bestellte die beiden Engländer für den nächsten Tag in dasselbe Cafe bei Venlo. Ich hatte noch keine Ahnung, wie ich mich dieses Mal herausschwindeln sollte. Um aber kein Misstrauen aufkommen zu lassen, musste ich eine neue stichhaltige Begründung für die Hinauszögerung der Sache suchen. Ich verbrachte eine unruhige Nacht. Auf Berlin war ich verärgert, obgleich ich wusste, dass man dort guten Grund hatte, zu zögern: Hitler hatte den Frontalangriff im Westen auf den 14. November 1939 festgesetzt. Dass er diesen Plan dann geändert hat, mag auf ungünstigen Wetterverhältnissen beruht haben, andererseits räumte mir Himmler später die Möglichkeit ein, dass auch meine damaligen Besprechungen mit den Engländern und mein Bericht über die entschlossene Haltung Englands Hitler schwankend gemacht hatten.
Beim Frühstück überflog ich die Morgenzeitungen - in Schlagzeilen war eine Vermittlungsaktion der holländischen Königin wie auch des belgischen Königs gemeldet. Darin sah ich die Lösung, wie ich meine Gesprächspartner im Haag hinhalten könnte. Ich vermochte nun zu erklären, die Oppositionsführung wolle zunächst die Entscheidung Hitlers in dieser neuen Lage abwarten. Am Vormittag hatte ich noch eine Unterredung mit dem in Aussicht genommenen "General", dem "Führer der Opposition". In Wirklichkeit war er ein Industrieller (ehemaliger Offizier) und SS-Führer.
Am Mittag passierte ich abermals die Grenze. Diesmal musste ich etwa eine Stunde in dem holländischen Cafe warten. Ich merkte, wie ich von verschiedenen Zivilisten beobachtet wurde, woraus ich schloss, dass die Gegenseite wieder misstrauisch und vorsichtig geworden war. Endlich erschienen meine Verhandlungspartner. Die Besprechung verlief ziemlich kurz, doch gelang es mir erneut, noch einmal das Misstrauen zu zerstreuen. Danach verabredeten wir uns für den nächsten Tag.
Abends meldete sich in Düsseldorf ein bekannter SS-Führer bei mir, dem ein Spezialkommando unterstand. Er erklärte, er sei auf Weisung von Berlin gekommen und habe bereits am Nachmittag unauffällig meinen Grenzübertritt gesichert. Er habe dabei festgestellt, dass der betreffende Grenzabschnitt sowohl von holländischer Polizei als auch von Geheimagenten völlig blockiert sei. Hätte man mich verhaftet, wäre es für sein Kommando äußerst schwer gewesen, mich wieder herauszuholen. Er habe aber den Befehl gehabt, mich unter keinen Umständen in die Hände der Gegner geraten zu lassen. In einem solchen Falle wäre es dann wohl zu einer bösen Auseinandersetzung gekommen. Mir wurde bei dieser Mitteilung nun doch etwas mulmig zumute, vor allem, wenn ich an den folgenden Tag und die Möglichkeit dachte, meine Gegenspieler weiter ins holländische Landesinnere oder gar nach London begleiten zu müssen.
In derselben Nacht wurde ich durch einen Anruf aus Berlin geweckt. Am Telefon meldete sich Himmler; "Wissen Sie eigentlich, was passiert ist?" fragte er mit erregter Stimme. Ich war noch völlig verschlafen und erwiderte kurz: "Nein, Reichsführer." Und darauf Himmler: "Heute abend nach Schluss der Ansprache im Bürgerbräukeller in München ist ein Attentat auf den Führer verübt worden. Der Führer hatte jedoch den Saal einige Minuten zuvor verlassen. Die Explosion wurde durch eine Höllenmaschine verursacht, dabei wurden einige alte Parteigenossen getötet. Es handelt sich hier bestimmt um einen Anschlag des englischen Secret Service." Hitler habe ihm, Himmler, nun sofort den Befehl erteilt, meine englischen Gegenspieler am Verhandlungsort in Holland zu arretieren und nach Deutschland zu bringen. Eine Grenzverletzung sei ihm in einem solchen Falle gleichgültig. "Das zu Ihrem Schutz abgestellte Sonderkommando können Sie zur Durchführung des Befehls einsetzen. Haben Sie alles verstanden?"
Es wäre sinnlos gewesen, zu widersprechen oder gar irgendwelche Einwände zu machen. Ich setzte mich deshalb sogleich mit dem Leiter des Sonderkommandos in Verbindung. Er schüttelte den Kopf und meinte, dass es im Hinblick auf die holländischen Grenzsicherungen wohl kaum ohne ein Feuergefecht abgehen werde. Unsere Chance könne nur im Überraschungsmoment liegen. Wenn ich mit den Engländern erst einmal das Cafe betreten hätte, sei es zu spät. Es müsse schon in dem Augenblick gehandelt werden, wo der Buick anrolle. Dann müsse das Sonderkommando die Grenzschranke durchbrechen und die Briten auf offener Straße festnehmen. Er habe sich bereits tags zuvor den Buick genau angesehen, damit man ihn sogleich wiedererkennen würde. In einem blitzschnellen Rückwärtsgang sollte dann die deutsche Grenze wieder erreicht werden. Auf diese Weise sichere man sich ein freies Schussfeld nach allen Seiten. Links und rechts der Straße würden einige Männer des Sonderkommandos die Flankendeckung übernehmen. Ich selbst solle zwar in dem vereinbarten Cafe auf die Engländer warten, doch mich so placieren, dass ich deren Ankunft vom Fenster aus beobachten könne. Sobald sich der Buick nähere, solle ich zwecks Begrüßung auf die Straße treten und sofort mit meinem Wagen wegfahren. Alles andere sei Sache des Sonderkommandos. - Ich bat abschließend, mich den zwölf Angehörigen des Kommandos vorzustellen, damit bei einer möglichen Schießerei keine Verwechslung mit Captain Best eintrete. Dieser hatte fast die gleiche Figur wie ich, trug überdies einen meinem sehr ähnlichen Mantel sowie ein Monokel.
Am anderen Tage überschritt ich zwischen 13 und 14 Uhr mit meinem früheren Begleiter die holländische Grenze bei Venlo. Draußen auf den Straßen herrschte an jenem Tag starker Verkehr, darunter auffallend viel Zivilisten, von Polizeihunden begleitet. Ich war ein wenig nervös und bestellte in dem Venloer Cafe einen Aperitif. Würden Best und Stevens kommen? Sie ließen ziemlich lange auf sich warten - die Uhr zeigte bereits 15.00, und noch immer war nichts von ihnen zu sehen. Plötzlich zuckte ich zusammen - blitzschnell brauste ein grauer Wagen in voller Fahrt heran. Ich war schon aufgesprungen, da packte mich mein Begleiter am Arm: "Irrtum, es ist ein anderer." Ich blickte bedenklich zum deutschen Zollhaus hinüber - würde sich das dort versteckte SS-Kommando nicht auch täuschen? Aber es blieb alles ruhig. Schließlich bestellte ich mir einen starken Kaffee, und gerade hatte ich den ersten Schluck genommen, da stieß mich mein Begleiter an: "Jetzt kommen sie!" Wir schlenderten bewusst gemächlich nach draußen. Die Mäntel ließen wir hängen. Dem Wirt, der uns mittlerweile schon kannte, sagte ich, dass unsere Gäste eingetroffen seien.
Der Buick schwenkte stark bremsend von der Landstraße ab, dem Parkplatz hinter dem Cafe zu. Ich war noch etwa zehn Schritte von dem Wagen entfernt, als ich das Auspuffgeknatter unseres Kommandoautos hörte. Und schon fielen Schüsse. Dann laute, brüllende Stimmen, offensichtlich von der konsterniert hin und her hastenden holländischen Grenzpolizei. Im gleichen Moment sprang Leutnant Copper aus dem Buick, zog einen schweren Dienstcolt aus der Tasche und legte auf mich an. Ich war unbewaffnet und sprang zur Seite. Im gleichen Augenblick raste der Kommandowagen um die Hausecke. Copper kehrte sich dem gefährlicheren Ziel zu und schoss hintereinander einige Male in die Windschutzscheibe. In einem Bruchteil von Sekunden sah ich das Aufsplittern der Scheibe und glaubte schon, dass einer der Schüsse den Fahrer oder den neben ihm sitzenden Kommandoführer getroffen habe. Doch schon sprang der Kommandoführer mit einem Riesensatz aus dem Auto, und nun begann ein regelrechtes Pistolenduell zwischen ihm und Copper. Plötzlich ließ Leutnant Copper die Pistole sinken und stützte seinen Körper auf die Knie. Ich stand noch immer in seiner Nähe.
Das Douane-Schild rechts gehört zu dem niederländischen Zollgebäude gegenüber des Cafés. Rechts im Hintergrund der Schlagbaum an der deutschen Grenze. Quelle: www.backusvenlo.nl
Da fuhr mich die rauhe Stimme des Kommandoführers an: "Nun hauen Sie doch endlich ab!" Ich sauste um die Hausecke in Richtung meines Wagens und sah noch im letzten Augenblick, dass Best und Stevens wie ein Bündel Heu aus ihrem Wagen gehoben wurden. Hinter der Hausecke erwartete mich ein neues Verhängnis: ein baumlanger SS-Unterführer packte mich an der Brust (der Betreffende war gegen jede Anordnung erst in letzter Minute dem Kommando zugeteilt worden und verwechselte mich mit Captain Best). Ich stieß ihn mit einem Ruck zurück und schrie: "Mann, nehmen Sie die Pistole weg!" Doch statt dessen legte er auf mich an. Im selben Moment, als er abdrückte, sauste eine Faust auf seinen Arm, und der Schuss ging haarscharf an meinem Gesicht vorbei. Der zweite Kommandoführer war mir in letzter Sekunde zur Hilfe gekommen.
Ich sprang nun in meinen Wagen und fuhr blitzschnell der deutschen Grenze zu. Das Überraschungsmanöver war
ohne nennenswerte Gegenaktion der holländischen Polizei gelungen.
Es war verabredet, dass sich alle Beteiligten nach Erledigung des Auftrages so schnell wie möglich wieder in
Düsseldorf einfinden sollten. Eine halbe Stunde nach mir traf das Sonderkommando mit den Gefangenen ein.
Bei Leutnant Copper handelte es sich, wie sich nunmehr ergab, in Wirklichkeit um den holländischen Generalstabsoffizier
Klop. Der Verwundete wurde sofort in ein Düsseldorfer Hospital eingeliefert, erlag jedoch wenig später seinen
Verletzungen.
Best, Stevens und der Fahrer wurden nach Berlin und dann in das Konzentrationslager Sachsenhausen übergeführt. Zwei Tage später begannen die Vernehmungen; sie wurden von erfahrenen Abwehrspezialisten durchgeführt. Ich habe selber dem Verhör mehrmals beigewohnt und mich überzeugt, dass Best und Stevens korrekt behandelt wurden. Nachdem Stevens jedoch einen Selbstmordversuch gemacht hatte, wurden beide Gefangenen nachts an lange Ketten gefesselt, damit die Posten bei jedem Geräusch aufmerksam würden, um einen zweiten Selbstmordversuch verhindern zu können. Vierzehn Tage später bei einem zufälligen Besuch im Lager sah ich die Ketten. Ich veranlasste sofort, diese zu entfernen. Captain Best scheint übrigens davon überzeugt zu sein, ich hätte Briefe an seine Frau zurückgehalten. Er konnte nicht wissen, dass dies auf Befehl Hitlers in der Abteilung des Gestapochefs Müller geschah.
Die Vernehmungsergebnisse mussten jeden Tag Hitler vorgelegt werden, der dann seine Anweisungen für die Fortsetzung der Verhöre sowie für die Behandlung des Falles in der Presse gab. Dabei verfolgte er deutlich das Ziel, das Attentat im Bürgerbräukeller als ein Werk des Secret Service hinzustellen, bei dem Best und Stevens ihre Hände im Spiel gehabt hätten.
Die Ermittlungen wurden zu einem Gesamtbericht verarbeitet und zeigten klar, dass der britische Nachrichtendienst in den Niederlanden seit langem ein ausgedehntes, gegen Deutschland gerichtetes Agentennetz unter der Leitung von Best und Stevens aufgebaut hatte; sie ergaben ferner eine enge Zusammenarbeit des niederländischen militärischen Geheimdienstes mit den Engländern. Aus der Tatsache, dass kurz nach dem Venlo-Zwischenfall der Chef des niederländischen militärischen Geheimdienstes seines Postens enthoben wurde, konnten wir schließen, dass die niederländische Regierung selbst die geschilderte Zusammenarbeit der Geheimdienste als den Neutralitätsgrundsätzen widersprechend ansah.
Best und Stevens haben nach dem Zusammenbruch 1945 ihre Freiheit zurückerlangt. Inzwischen hatte ich wiederholt versucht, sie auf dem Wege eines Austauschverfahrens (von Agenten) freizubekommen. Alle meine Versuche scheiterten jedoch immer wieder daran, dass Himmler die Freilassung dieser Männer ausdrücklich ablehnte und mir im Jahre 1944 sogar verbot, überhaupt noch einmal darüber zu sprechen. Hitler habe sich, so erklärte er, immer noch nicht mit dem "Versagen" der Geheimen Staatspolizei abgefunden (gemeint war der Misserfolg bei der Ermittlung der von ihm vermuteten Hintermänner Elsers, des Attentäters im Münchener Bürgerbräukeller). Hitler halte Best und Stevens nach wie vor für Mitwisser. Himmler schloss: "Rühren Sie nicht mehr an diese Geschichte, sonst steigt der Prozess gegen die beiden Engländer doch noch."
Captain Best, der nach dem Kriege seine Gefangenschaft in Deutschland in einem Buch geschildert hat, scheint nicht zu wissen, in welcher Gefahr er und Stevens damals ständig geschwebt haben. ...
1945 in US-Gefangenschaft v.l.n.r.: Alfred Naujocks, Viktor Zeischka, Wilhelm Höttl, Walter Schellenberg
Inzwischen wurde das gesamte Venlo-Kommando in die Reichskanzlei berufen. Im Hofe des Gebäudes war eine
Ehrenkompanie der SS angetreten. Die zwölf Männer des Sonderkommandos und ich hatten uns militärisch in Linie
im Empfangssaal aufgestellt.
Als Hitler den Raum betrat, musterte er zuerst jeden von Kopf bis Fuß. Darauf hielt
er eine kurze Ansprache: Er erkenne die gezeigten Leistungen an und freue sich über die rücksichtslose Einsatzbereitschaft;
Deutschland habe der alten Tradition des Secret Service noch nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen, doch gerade
darum gelte es, den Helm fester zu binden. Zum ersten Male verleihe er Mitgliedern des Geheimdienstes militärische
Auszeichnungen zum Beweis dafür, dass der Kampf an der geheimen Front ebenso wichtig sei wie der mit den Waffen.
Dann reichte er jedem von uns die Hand und zeichnete mich und drei andere mit dem EK I, die übrigen mit dem EK II
aus. Als wir die Reichskanzlei verließen, salutierte die Leibstandarte mit präsentiertem Gewehr. Ich muss gestehen,
dass diese Zeremonie mich damals stark beeindruckte. ...
Ehe ich nun auf den Angriff im Westen eingehe, muss ich zuvor noch einmal auf das Venlo-Unternehmen zurückkommen. Hitler hatte mir befohlen, mich wegen der Auswertung des Materials mit dem Reichsaußenminister in Verbindung zu setzen.
Als ich mich bei Ribbentrop meldete, stand er mit verschränkten Armen hinter seinem Schreibtisch und reichte mir etwas kühl die Hand. "Was haben Sie mir vorzutragen?" fragte er mich ziemlich herablassend. Ich ärgerte mich über diese arrogante Art und begann schon mit Widerstreben meinen Vortrag. Er schien dies zu merken und wurde ein wenig liebenswürdiger. Wohlwollend forderte er mich nun auf, in einem kleinen angrenzenden Salon Platz zu nehmen. Nach Beendigung meines Vertrags meinte er: "Der Führer ist fest davon überzeugt, dass durch das Venlo-Material die Neutralitätsverletzung Hollands zugunsten Großbritanniens einwandfrei erwiesen ist, und er wünscht, dass ein entsprechender Bericht darüber angefertigt wird."
Danach drückte er auf die Klingel, und es erschien der damalige Unterstaatssekretär Gaus. Er war einer der engsten Mitarbeiter Ribbentrops, ein Meister auf dem Gebiet des Internationalen Rechts, und es gab im Auswärtigen Amt keinen Entwurf von Wichtigkeit, den Gaus nicht verfasst oder redigiert hätte. Ribbentrop ersuchte ihn nun, die Frage der niederländischen Neutralitätsverletzung weiter mit mir zu besprechen und zu bearbeiten.
Es war um den 1. Mai herum, genau erinnere ich mich des Tages nicht mehr, als Heydrich mich anrief und von einer Stunde auf die andere die Vorlegung des Venlo-Berichtes forderte. Es war mir aber nicht möglich, den Bericht binnen so kurzer Frist in ausgefeilter Form fertigzustellen. Heydrich erregte sich darüber, und gemeinsam nähmen wir dann die Korrekturen vor. Noch am gleichen Abend musste dieser Bericht Hitler vorgelegt werden. Am folgenden Morgen hatte ich mich wieder bei Ribbentrop zu melden. Ich fand seinen gesamten Mitarbeiterstab, mitten darunter Gaus, in strenger Klausur über der Abfassung des Memorandums der deutschen Reichsregierung an die Niederlande und Belgien. Niemand der Mitarbeiter durfte während dieser Zeit das Dienstgebäude in der Wilhelmstraße verlassen.
Am Nachmittag wurde im Arbeitszimmer Ribbentrops Seite um Seite des Schriftstücks verlesen, wobei Ribbentrop zwischendurch immer wieder Bemerkungen über seine Erfahrungen mit dem britischen Geheimdienst machte. Er litt förmlich unter einer Art "Spionitis" bezüglich Englands. Jeder Engländer, der sich im Ausland aufhalte, behauptete er, sei mit Aufträgen des Secret Service versehen. Aus allem sprach dabei deutlich sein abgrundtiefer England-Hass. Und es war auch Ribbentrop, der jenen geschmacklosen Satz am Ende des Berichts des Reichsinnenministeriums (der dem Memorandum beigegeben wurde) einfügte: "Diese für die Arbeit der britischen Agenten und deren verbrecherisches Treiben wichtigen Angaben der britischen Nachrichtenoffiziere werden die Grundlage für ein demnächst öffentlich durchzuführendes ordentliches Strafverfahren abgeben, das Aufschluss geben wird über die dunklen Pläne der obskuren, homosexuellen, ja sogar asozialen verbrecherischen Elemente des sogenannten 'Secret Intelligence Services'". Gaus und ich erhoben Bedenken. Mit einer Handbewegung schnitt jedoch Ribbentrop jede weitere Erörterung ab und sagte: "Diesen britischen Kanaillen soll einmal alles gesagt werden."
Anschließend hatte ich noch die Unterschrift Himmlers und des damaligen Reichsinnenministers Frick einzuholen. Himmler empfing mich in seiner Wohnung und las bedächtig Wort für Wort. Bei den letzten Sätzen stutzte er: "Muss das sein? Das wirkt billig." Er ließ sich sofort mit Ribbentrop verbinden, sprach lange über dies und jenes, und als er schließlich auf den eigentlichen Grund seines Anrufes kam, gab er nach.
In aller Frühe fuhr ich nach Starnberg zu Frick, der ohne Einwendungen unterschrieb. Als Ribbentrop die Unterschriften in den Händen hielt, klopfte er mir befriedigt auf die Schulter. Die Übermittlung des Memorandums an die niederländische und belgische Regierung oblag Unterstaatssekretär Gaus. Das geschah am 9. Mai 1940.
In den frühen Morgenstunden des 10. Mai 1940 begann der deutsche Angriff im Westen. ...
Quelle: Walter Schellenberg, Aufzeichungen. Die Memoiren des letzten Geheimdienstchefs unter Hitler, München 1979, S. 79 ff (Erstveröffentlichung London 1956)
Walter Schellenberg (* 16. Januar 1910 in Saarbrücken; 31. März 1952 in Turin, Italien)
war zuletzt Chef des SD (Sicherheitsdienst Ausland) und der Militärischen Abwehr im Dritten Reich
im Rang eines SS-Brigadeführers und Generalmajors.
Nach Jurastudium und Referendartätigkeit trat Schellenberg 1933 der SS bei. Im SD-Hauptamt unter
Reinhard Heydrich begann er in der Organisationsabteilung. 1939 übernahm er im
Reichsicherheitshauptamt
(RSHA) die Gruppe "IV E Abwehr Inland" innerhalb vom "Amt IV Gestapo". 1941 wurde er
Leiter von "Amt VI SD Ausland". 1944 wurde das Amt Ausland/Abwehr (Canaris) aufgelöst und
weitgehend in ein neues "Amt Mil" ins RSHA überführt, das dem von
Schellenberg geleiteten "Amt VI" zugeordnet war.
Anfang Oktober 1939 war Schellenberg von Heydrich an die Staatspolizeistelle Dortmund versetzt worden,
um sich dort als künftiger Amtsgruppenchef im Reichssicherheitshauptamt mit der Praxis der polizeilichen Spionageabwehr
vertraut zu machen. Er war 29 Jahre alt, SS-Sturmbannführer, Regierungsrat und zuvor im SD-Hauptamt beschäftigt.
Der Text stammt aus seinen 1956 in London posthum erschienenen Memoiren.