Er verließ die Straße fünfzig Meter hinter dem deutschen Grenzposten mit der schwarz-weißen Schranke. Sie hielten vor einem Geschäft, wo zeitlich begrenzte Versicherungen verkauft wurden für Reisende, die ihr Auto mit ins Ausland nahmen. Er fragte sich, was der Verkäufer als Prämie für seine kurze Reise berechnen würde. Seine beste Versicherung, entschied er, als er allein auf das Wachthaus aus Beton in der Mitte der Straße zuging, war der Kofferraum voll mit Maschinenpistolen.
Er zeigte dem älteren befehlshabenden Hauptmann seine Ausweispapiere und sprach so wenig wie möglich. Als er zum Auto zurückging, hörte er, wie die Schranke quietschend in die Höhe ging. Sie blieb leicht schwankend oben. Die zwölf Männer starrten auf die breite Betonstraße nach Holland und warteten.
Café Backus (links), deutsche Grenze (Hintergrund rechts) Quelle: Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie Amsterdam
Sie konnten gerade noch das Restaurant sehen und eine einsame Person auf der Veranda. Ein kleines Mädchen mit einem schwarzen Labrador schlenderte in Richtung Straße. Ein Ladenbesitzer stand in der Türöffnung und rauchte eine Pfeife. Ein älterer französischer Renault hielt stotternd unter der offenen Schranke an, wurde aber weiter gewunken. Ein junger Mann auf einem Fahrrad kam von der holländischen Seite und rief einem Posten etwas freundschaftlich zu ohne zu halten. Alles war sehr friedlich und sehr normal. Einige unheilvolle Zeichen gab es: Rollen aus rostigem Stacheldraht waren in den Gräben ausgelegt und eine lange Reihe eiserner Pfosten und Panzersperren aus Beton markierten die Grenze. Aber es gab nichts, wodurch sich der Ort von irgendeinem kleinen Grenzposten irgendwo in Europa an diesem Novembermorgen unterschied. Nur der Hauptmann des Wachtpostens war nervös. Die zwölf Männer, die Bescheid wussten, saßen da und warteten.
Am holländischen Grenzposten weiter vorn an der Straße wimmelte es von Maschinengewehren. Gruppen von Arbeitern und Soldaten bauten an beiden Seiten Panzerfallen auf. Die Wachen trugen Maschinenpistolen. Diese holländischen Soldaten sahen sehr zuverlässig aus. Der wachhabende Offizier antwortete am Telefon. "Ein schwarzer Buick, mit Linkssteuerung... 15.15 Uhr? In Ordnung." Er legte den Hörer auf und sprach mit seinem Untergebenen. "VIPs", sagte er kurz und zeigte ihm die Notiz, die er auf seinen Block gekritzelt hatte. "Soll nicht angehalten werden."
Schellenberg bemühte sich sehr, die beiden Autos in der Ferne nicht anzustarren, aber vergebens. Er schien in einer gefährlichen Lage zu sein, wie er hier allein auf der Veranda des Restaurants saß. Naujocks und seine Männer bedeuteten Sicherheit, aber sie hätten eine Million Meilen entfernt sein können. Tatsächlich waren sie in einem anderen Land.
Schellenbergs Finger drehten nervös das Glas mit dem Aperitif auf dem Untersetzer. Er wollte aufstehen und herumgehen, aber das konnte er nicht, denn Naujocks hätte etwas in seine Bewegung hineindeuten können. Er wusste, dass sie ihn wie Falken beobachteten.
Die Spannung der vorherigen Treffen war weg. Das waren geistige Duelle gewesen. Jetzt könnte es jede Minute Schüsse, Verletzte, vielleicht Tote geben. Erfolg oder Misserfolg hingen von Pech oder Glück ab, je nachdem auf welcher Seite man war. Er hatte nie Operationen mit Gewalt gemocht.
Sein Blick fiel auf das kleine Mädchen und seinen Hund. Er hoffte, dass es rechtzeitig aus dem Weg sein würde.
Naujocks blickte zum Himmel hoch. Es würde nicht regnen. Nicht, dass es etwas ausmachen würde. Aber es würde seltsam aussehen, wenn man die Plane abnähme, damit die Insassen, wie es schien, vom Regen durchnässt würden. Auf ein Zeichen stieg einer der Männer mit ihm aus und zusammen nahmen sie das Verdeck aus Segeltuch ab. Es war, als ob man eine Dose Sardinen öffnete. Die Männer drinnen nahmen ihre Blicke nicht eine Sekunde weg von der Straße und dem Restaurant, während sie allmählich dem kalten Wind ausgesetzt waren.
Nachdem die Plane verstaut war und die Klappe befestigt, lehnte sich Alfred herüber und startete den Motor. Lässig ging er zum hinteren Auto und sprach mit dem Fahrer. Sechs Männer kletterten heraus und stellten sich um das erste Fahrzeug. Es waren drei Männer auf jeder Seite, und jeder hatte einen Fuß auf dem Trittbrett. Alfred stand in 1,80 Meter Entfernung und schaute auf seine Uhr: 15.15. Sie waren spät dran. Er unterdrückte das erste Lächeln an diesem Tag, ein unfreiwilliges, als er sah, welchen Anblick seine SS-Männer boten. Ein Haufen großer Männer, die alle versuchten, locker und unauffällig zu wirken, aber so aussahen, als ob sie kurz davor waren, eine Bank zu überfallen. Er hoffte, dass der große Ford die Last aushalten würde. Er ging zurück zum Auto und setzte sich auf den Fahrersitz. Er war sich der Mauer von Männern um ihn herum sehr bewusst und auch der nun offen neugierigen Blicke der Wachen und der zwei oder drei Zuschauer.
Die Minuten vergingen. Best und Stevens hätten schon ewig hier sein müssen. Was wäre, wenn niemand kam? Was für eine Enttäuschung! Ein großes Auto kam ihnen auf der Straße schnell entgegen, und seine Finger griffen das Lenkrad fester. Aber es bog vor dem Restaurant ab. Er entspannte sich nicht mehr, sondern beugte sich nach hinten, um nach dem geöffneten Koffer auf dem Boden hinter seinem Sitz zu schauen. Die drei sitzenden Mitfahrer hatten ihre Beine fest zusammengepresst, damit man jederzeit an die Gewehre kommen konnte. Er schaute den Männern ins Gesicht und grinste schwach. Aber es gab kaum eine Reaktion.
Diese Warterei war schlecht für Reflexe.
Alles andere war perfekt. Sie konnten Schellenberg sehen, und er konnte sie sehen. Sie waren auf der richtigen Seite der Grenze und würden hier bis zum letztmöglichen Augenblick bleiben. Keine verdächtig wirkenden Personen beobachteten sie. Die Schranke war oben, und er glaubte, dass es mit Höchstgeschwindigkeit nicht mehr als ein und ein halb Minuten dauern würde, um das Restaurant zu erreichen. Das Auto von Best und Stevens müsste sich um eine Kurve nähern, so dass die Insassen nicht das am Wachthaus wartende Empfangskomitee sehen würden, bis sie beinahe am Restaurant waren. Und dann lag es an Schellenberg, dafür zu sorgen, dass sie ihn und nicht den Wagen hinter der Grenze ansahen. Wenn Schellenberg aufstand, war das ihr Signal.
Genau zwanzig nach drei stand Schellenberg auf.
Der lange niedrige Buick fuhr sehr schnell um die leichte Kurve, verlangsamte die Fahrt dann, als der Fahrer die Person vor dem Restaurant erblickte. Schellenberg winkte und lehnte sich über das Holzgeländer. Kurz runzelte er die Stirn. Vier Männer waren im Auto, nicht zwei. Inzwischen war es neben ihm, und er zeigte nach hinten auf den Parkplatz.
Ein holländischer Fahrer saß am Lenkrad. Er lenkte auf die Einfahrt und sagte etwas zu dem Fremden neben sich. Best und Stevens saßen hinten.
Alfred legte den Gang so ruckartig ein, dass die Männer auf dem Trittbrett sich an die Seitenwände klammerten, um sich zu halten. In den ersten paar Sekunden war das Auto langsam, aber dann schafften die acht Zylinder das enorme Gewicht und gaben ihr bestes. Die erstaunten Grenzposten standen wie angewurzelt, als das große Fahrzeug fast unsichtbar unter der Last der zwölf Männer an ihnen vorbeischoss.
Innerhalb von Sekunden hatte jeder Mann eine Pistole in der Hand, als ob er sie aus der Luft gegriffen hätte.
Nun rasten sie die Straße entlang. Der Buick war fast außer Sichtweite auf dem Parkplatz. Einer der stehenden Männer feuerte seine Pistole in die Luft. Alfred fluchte schrecklich auf ihn. Er konzentrierte sich auf die Gestalt von Schellenberg, der sich Gott sei Dank nicht umgedreht hatte bei dem Schuss. Ein Fuß glitt vom Gaspedal auf die Bremse. Er schätzte den Abstand sehr genau und trat fest darauf. Die Reifen quietschten, und Alfred, der immer noch zu schnell war, riss das Lenkrad erst nach links, dann nach rechts und schlitterte hinter dem Buick her in einer Staubwolke und dem Geruch von Gummi.
Bevor der Wagen anhielt, waren die SS-Männer schon abgesprungen und rannten schreiend nebenher. Alfreds Tür war geöffnet, er kletterte hinaus und ärgerte sich, weil er in seiner Manteltasche nach seiner Pistole suchen musste. Als seine Füße den Boden berührten, gab es vor ihm eine Explosion, und ein Windstoß von heißer Luft versengte seine Wange. Die Windschutzscheibe zersplitterte. Er drehte sich um, um zu sehen, woher die Kugel gekommen war. Ein Mann rannte gebückt zur Straße und schoss dabei. Es gab eine Detonation von Maschinengewehrfeuer über Alfreds Kopf hinweg, und der Mann brach zusammen. Im nächsten Augenblick ging alles durcheinander.
In den Fenstern des Restaurants erschienen Köpfe. Erschreckte Gesichter versuchten alles gleichzeitig zu erfassen. SS-Männer rannten zu der Leiche und stießen dabei mit denen zusammen, die zum Buick rannten. Jemand schoss mit einer Maschinenpistole. Einer blies wild eine Pfeife.
Bei all dem versuchte Alfred ruhig zu bleiben. Er konnte zwei Köpfe im Auto sehen und hoffte, es wären Best und Stevens. Sie waren es. Auf Englisch sagte er durch das offene Fenster zu ihren Nacken: "Hände hoch. Sie haben keine Chance."
Die beiden blieben einen Augenblick sitzen und wussten nicht, ob sie drinnen bleiben oder herauskommen sollten. Sie hoben ihre Hände, und nachdem sie mit einer Pistole gestoßen worden waren, rutschten sie über den Vordersitz zur Tür. Zwei Männer hatten Handschellen bereit, und sie wurden ihnen angelegt.Man hörte ein neues Geräusch, ein Motor wurde angelassen. Alle erstarrten und schauten zum Parkplatz. Es war Schellenberg. Sein blasses Gesicht war noch weißer, als er durch den anderen Eingang wegdonnerte. Eine Sekunde, und er raste hinter ihnen vorbei auf der Straße nach Deutschland. Alfred wollte lächeln, konnte aber nicht vor seinen Gefangenen.
"Rechts, Marsch!", rief er, "Beeilung!"
Die ganze Truppe, mit Best und Stevens in der Mitte, marschierte los im Schnellschritt. Den letzten Mann rief er zurück. Er zeigte auf den Buick und befahl: "Fahren Sie ihn zur Grenze." Er setzte sich in sein eigenes Auto und fuhr nach einem letzten Blick rundum rückwärts raus. Im Vorbeifahren sah er kurz das kleine Mädchen, wie es in einem Garten kauerte, die Arme um ihren schwarzen Hund gelegt.
Quelle: Günter Peis, The Man Who Started The War, London, 1960. Übersetzung: Inge McCormick.
Alfred Helmut Naujocks (* 20.9 1911 in Kiel, 4.4.1966 in Hamburg), SS-Sturmbannführer,
trat 1931 in die SS ein. Von 1934 bis 1941 war er Mitarbeiter beim Sicherheitsdienst (SD), dem von
Reinhard Heydrich geleiteten Geheimdienst der SS.
Im Januar 1935 schaltete er in der Tschechoslowakei einen illegalen Radiosender der "Schwarzen Front" aus.
Dabei kam Rudolf Formis, ein Mitstreiter von
Otto Strasser,
im Záhoří Hotel in Slapy ums Leben.
1936 fälschte er Unterlagen, die den sowjetischen Marschall Tuchatschewskij belasteten, und löste damit
einen Säuberungswelle in der Roten Armee aus. Stalin ließ tausende Offizieren wegen "Sabotage und
Verschwörung" liquidieren. Tuchatschewski wurde am 12.6.1937 erschossen.
Er war für den inszenierten Überfall auf den Sender Gleiwitz am 31.8.1939 verantwortlich, der den
deutschen Einmarsch in Polen begründen sollte. Nach dieser und parallel dazu durchgeführten
Aktionen konnte Hitler am nächsten Morgen verkünden: "Seit 5:45 Uhr wird zurückgeschossen!"
Er hatte die Idee, die britische Wirtschaft mit gefälschten Banknoten zu überschwemmen. Zwischen 1942 und 1945
wurden über 100 Millionen gefälschter Pfundnoten hergestellt und in Umlauf gebracht. Die
Fälschungen waren so perfekt, dass sie fast nicht vom Originalgeld unterschieden werden konnten, die Bank
of England rief nach dem Krieg alle 50-Pfund-Noten zurück und ersetzte diese durch eine neue Serie.
Anfang 1941 wurde Naujocks aus dem SD entlassen, weil er sich mit Heydrich überworfen hatte. Er wurde degradiert
und kam im Februar 1941 als Mitglied der Waffen-SS an die Ostfront.
Ab September 1942 arbeitete er in der wirtschaftlichen Abteilung der Militärverwaltung von Belgien.
1944 desertierte er, ergab sich am 19. Oktober 1944 den Amerikanern und sagte später bei den Nürnberger
Prozessen aus.
Naujocks ließ sich nach dem Krieg in Hamburg nieder, wo er unbehelligt bis zu seinem Tode als Geschäftsmann lebte.
Günter Peis (links) mit Alfred Naujocks
1960 veröffentlichte der österreichische Journalist Günter Peis
die Memoiren von Naujocks unter dem Titel
'The Man Who Started The War'.
Peis hatte Naujocks bereits bei den Nürnberger Prozessen kennengelernt und dessen
Aussage zunächst für eine
Propagandalüge der Alliierten gehalten. In den folgenden Jahren suchte er Naujocks in allen Besatzungszonen Deutschlands.
1952 spürte er ihn in Hamburg auf, wo Naujocks unter falschem Namen lebte.
1959 zitierte er Naujocks in seiner Reportage
Zieh dich aus, Elser
zum Venlo-Zwischenfall.
Peis arbeitete zwei Jahre lang gemeinsam mit Naujocks an dessen
Memoiren, erstellte Exklusiv-Interviews und recherchierte Hintergründe. Die Biografie erschien zunächst in London in
englischer Sprache, wurde aber auch in USA, Kanada, Frankreich, Südamerika und Japan ein Verkaufserfolg. Für eine
deutsche Ausgabe dieses Zeitdokuments hat sich bis heute kein Verleger gefunden.
1) NCO = non-commissioned officer. Militärische Führungskraft der unteren Ebene, üblicher
Weise im Rang eines Corporal oder Sergeant, erkennbar an ein, zwei oder drei Winkeln am Ärmel. Dies entspricht
deutschen Dienstgraden zwischen Hauptgefreiter und Hauptfeldwebel.