Die Nachhut Nr. 23/24 vom 15.5.1973, Seite 1. Diese Zeitschrift
war eine Art Newsletter für ehemalige Mitglieder der Abwehr (Canaris), des nicht mit dem SD (Heydrich) zu
verwechselnden Geheimdiensts der Wehrmacht.
Oberstleutnant a.D. Walter Schulze-Bernett, der Verfasser dieses Artikels, geb. 27.11.1896 in Hamburg, gehörte ab Juli 1935 der Abwehr-Nebenstelle Köln an. Im September 1938 wurde er Leiter der KO-Niederlande in den Haag
[KO = Kriegs-Organisation], im Mai 1940 Leiter der Abwehrstelle Niederlande. Im Juli 1941 übernahm er die Leitung der KO-Naher Osten in Ankara, welchen Posten er bis 1.3.1943 inne hatte.
Das geschah am Donnerstag nachmittag den 9. November 1939 bei Venlo:
Überfall aus dem Hinterhalt,
Schießerei mit Todesfolge,
Gewaltsame Entführung unter
Grenzverletzung.
Die Vorgeschichte:
1937 bahnte der Major Johannes Travaglio von der Abwehr I/Luft, unter der Decknamen Dr. Solms, eine Verbindung zu einem bei einem bayrischen Ehepaar in Amsterdam wohnenden Deutschen namens Fischer an. Dieser hatte Deutschland verlassen, da er gerichtlich verfolgt wurde.
Eine erste Besprechung fand im Januar 1938 im Carlton Hotel in Amsterdam statt. Es nahmen daran teil: Major Travaglio, Major Dibitsch und ein Zivilist namens Dr. Kühner. Das Gespräch drehte sich um die Möglichkeit der Verhütung eines Krieges, sowie um die Einbeziehung der in Holland tätigen Kreise, die sich mit Friedensbestrebungen befassten. Fischer, der Beziehungen nach London unterhielt, unterrichtete seine Bekannten in London über diese Verbindung zu maßgeblichen Stellen in Deutschland. Fischer pflegte seine Verbindungen weiter. Am 30. August 1939 wurde er von London aus an die Fa. "Pharmisan" in Den Haag verwiesen. Am 1. September 1939 suchte Fischer diese Firma auf und wurde von deren Leiter, Herrn S. Payne Best, empfangen, dem er über seine Verbindung mit deutschen Stellen berichtete.
Best ersuchte Fischer, ihn mit Dr. Solms in Verbindung zu bringen. Bald darauf fand eine Zusammenkunft im Hotel Wilhelminia in Venlo Mitte 1939 statt, bei der Best mit noch einem Herrn erschien. Auch bei dieser Besprechung wurden Fragen über die Möglichkeit einer Kriegsverhütung besprochen, sowie Andeutungen gemacht über deutsche Widerstandsgruppen in der Wehrmacht, deren Bestreben es sei, mit der Gegenseite in Fühlung zu kommen.
Ende September 1939 bat Payne Best Herrn Fischer, weitere Verbindungen zu deutschen, vertrauenswürdigen Personen anzubahnen, um die gleichen Ziele zu verfolgen, wie sie Fischer und ihm vorschwebten. Dr. Fischer rief daraufhin einen Herrn Dr. Helmut Hubert Knochen (geb. 14.3.1910 in Magdeburg) an, den er durch Vermittlung eines Herrn Boehme aus Berlin kennen gelernt hatte. Er berichtete Dr. Knochen, daß er in Verbindung zum englischen Nachrichtendienst stehe und beauftragt sei, Verbindungen zu Kreisen in Deutschland anzuknüpfen, die Bemühungen zur schnellen Beendigung eines Krieges unterstützen würden und zu entsprechenden Besprechungen bereit seien.
Fischer wußte nicht, daß er mit diesem Telefongespräch den Grenzzwischenfall Venlo einleitete, und daß von seinen alten Bekannten in Berlin Boehme, seit Anfang 1939 dem S. D. Hauptabt. III, und Dr. Knochen seit 1937 der Presseabt, des S.D. angehörten und daß sich nun das Reichssicherheits-Hauptamt, der S.D., in die Verhandlungen einschalten würde, um ein Spiel mit dem englischen Nachrichtendienst zu beginnen.
Der seit einigen Jahren in Holland ansässige, mit einer Tochter des holländischen Generals der Marinetruppen, van Rees, verheiratete englische Captain S. Payne Best, Leiter der Firma Pharmisan und Mitglied des engl. Intelligence Service, hatte inzwischen seinen Kollegen vom englischen Nachrichtendienst, den Major Stevens, der in Den Haag als Leiter des British Pasport Controle Office saß, von seinen Beziehungen zu deutschen Stellen der Wehrmacht und einer Widerstandsbewegung innerhalb der Wehrmacht unterrichtet. Major Stevens, ein kluger und erfolgreicher englischer Offizier, der außer der deutschen Sprache französisch, russisch, griechisch, arabisch, hindustanisch und malaiisch beherrschte, interessierte sich natürlich für diese Verbindungen seines Kollegen Best.
Payne Best hatte Mitte Oktober 1939 ebenfalls den Leiter des niederländischen Nachrichtendienstes des Generalstabes, die Abteilung G. S. 3. Generalmajor W. van Oorschot, über die Anbahnung von Verbindungen zu deutschen militärischen Stellen informiert.
Da nun eine neue Unterredung mit deutschen Mittelsmännern bevorstand, bei der man die Teilnahme eines deutschen Generals der Widerstandsbewegung erwartete, unterrichtete Major Stevens den Generalmajor van Oorschot über die von englischer Seite beabsichtigten weiteren Schritte und bat um die Unterstützung durch einen holländischen Offizier von der Dienststelle des Generalmajors, da inzwischen, wegen der drohenden Kriegsgefahr die Grenzzonen von holländischer militärischer Seite durchgehend streng bewacht würden, und eine Besprechung mit den Deutschen auf niederländischem Boden möglicherweise auf Schwierigkeiten stoßen würde. Van Oorschot war von diesem Ersuchen wenig erbaut und lehnte zunächst eine Beteiligung an den Besprechungen ab. Major Stevens wußte ihn dadurch umzustimmen, daß er eine schriftliche Ermächtigung vorlegte, die er von Lord Halifax aus London erhalten hatte und in der er, Major Stevens, ersucht wurde, die Verbindungen aufzunehmen und fortzuführen. Nunmehr erklärte sich Generalmajor van Oorschot bereit, den holländischen Oberleutnant Dirk Klop, der Generalstabsoffizier war und der Abt. G. S. III a unterstand, lediglich als Beobachter an den Besprechungen teilnehmen zu lassen, ohne daß er in den Verlauf der Verhandlungen oder in die Diskussion eingreifen dürfe.
Am 19. Okt. 1939 fand die erste Besprechung statt [Dieses Treffen fand am 20.10.1939 statt]. Dr. Fischer holte, zusammen mit dem Obltn. Klop die deutschen Unterhändler um 10 Uhr in Dinxporlo ab. In Zutphen traf man Payne Best und Stevens. Da man sich in Zutphen beobachtet fühlte, fuhren beide Parteien nach Arnheim. Aus Sicherheitsgründen wurde dort die Privatwohnung einer mit Best befreundeten Familie aufgesucht.
An dieser ersten Besprechung nahmen teil:
von deutscher Seite ein Rittmeister von Seydewitz oder Seidlitz (Decknamen des SS Sturmbannführers von Salisch);
Leutnant Grosch (Deckname eines Angehörigen des Reichssicherheits-Hauptamtes)und
Herr Fischer aus Amsterdam.
Von englischer Seite: Major Stevens, Captain Payne Best und unter dem Decknamen Captain Copper der holländische Oberltn. Klop.
Es wurden Fragen der deutschen Widerstandsbewegung, über die evtl. Ausschaltung von Hitler, sowie über die Möglichkeit diskutiert, einen deutschen General von der Widerstandsbewegung zu einer nächsten Besprechung mitzubringen.
Der zuständige Abteilungsleiter von R. S. H. in Berlin, sowie Heydrich und Himmler wurden über die Besprechung unterrichtet. Heydrich verfügte, daß das Reichssicherheits-Hauptamt die Besprechungen mit den Engländern fortsetzen sollte und beauftragte den damaligen Referenten und späteren Amtsleiter im R. S. H. Schellenberg, mit der weiteren Durchführung dieses nachrichtendienstlichen Spieles. Schellenberg, ein Favorit Heydrichs, sollte es als Übung und Schulung für seine Aufnahme in den R. S. H. betrachten.
Obltn. Klop unterrichtete Generalmajor van Oorschot über diese erste Besprechung mit den deutschen Stellen und erwirkte, daß er auch an einer zweiten Besprechung teilnehmen dürfe. Der Generalmajor stimmte unter der Bedingung zu, daß dies die letzte Besprechung sei, zu der er die Zustimmung der Teilnahme von Obltn. Klop erteilen könne.
Diese zweite Besprechung fand am Montag, den 30. Oktober 1939 in der Wohnung des Captain Payne Best in Den Haag statt. An ihr nahmen teil: Als Wortführer der in Widerstand befindlichen deutschen Offiziere: Major Schemmel (Deckname für Schellenberg vom S.D.), der den Eindruck erwecken sollte, der Adjutant des deutschen Generals zu sein, der leider noch nicht erscheinen könne. Schellenberg hatte seinen besonderen Freund mitgebracht und zwar Prof. de Chrinis, den Leiter der psychiatrischen Abteilung der Charite in Berlin, unter der Deckbezeichnung Oberst Martini. Auf englischer Seite: Major Stevens, Captain Payne Best und Captain Copper (Obltn. Klop).
Auch bei dieser Begegnung wurde über nachrichtendienstliche Dinge, über eine Ausschaltung Hitlers und Rippentrops (worauf die Engländer Wert legten), sowie über mögliche Friedensverhandlungen und Bedingungen gesprochen. Die Engländer bestanden darauf, daß ein deutscher General mit ihnen verhandeln solle. Zur weiteren Aufrechterhaltung der ständigen Verbindung wurde den Deutschen ein Sende- und Empfangsgerät übergeben. Es wurden Wellenlänge sowie Sendezeiten vereinbart und ein Code für die Verschlüsselung der Funksprüche übergeben. Somit bestand die Möglichkeit einer ständigen Funkverbindung zu vereinbarten Zeiten zwischen den verantwortlichen englischen Stellen und der angeblichen deutschen Widerstandsbewegung, tatsächlich aber dem S.D.
Am 7. November 1939 fand in dem Cafe Backus, auf niederländischem Gebiet, an der Straße Kaldenkirchen - Venlo, (holl.
Grenzzollhaus Blerik), etwa 100 Meter vom deutschen Zollübergang Herogen, beides auf der rechten Straßenseite von
Deutschland aus gesehen, die dritte Besprechung statt, und zwar mit:
Major Schemmel (Schellenberg),
Leutnant Grosch (Christensen),
sowie
Major Stevens, Captain Payne Best und Captain Copper (Obltn. Klop).
Der von den Engländern erwartete deutsche General blieb immer noch aus.
Eine neue Besprechung, ebenfalls im Cafe Backus, wurde für den nächsten Tag, also für den 8. Nov. vereinbart. An dieser Unterredung nahm von deutscher Seite nur Major Schemmel (Schellenberg) teil. Auf englischer Seite wieder Major Stevens, Captain Payne Best und ohne Genehmigung des holländischen Generals Captain Copper (Oberltn. Klop).
Schemmel bedauerte, daß der General nicht habe kommen können; mit seiner Teilnahme an den Besprechungen sei am folgenden Tage jedoch zu rechnen. Also wurde eine neue Zusammenkunft für Freitag, den 9. Nov. 1939 um 16 Uhr an der gleichen Stelle vereinbart.
Am 8. November abends fand in München, im Bürgerbräukeller ein Attentat auf Hitler,
das rechtzeitig entdeckt wurde, statt [Es wurde nicht rechtzeitig entdeckt, Hitler verließ
aber den Bürgerbräukeller 13 Minuten vor der Explosion]. Himmler vertrat die Überzeugung, daß der englische Nachrichtendienst dieses Attentat auf den Führer veranlaßt habe, und daß möglicherweise Stevens, Best und Copper entweder davon unterrichtet gewesen seien oder die Hand im Spiel gehabt hätten. Daher müßten die Engländer sofort entweder auf deutschein oder auf holländischem Boden verhaftet werden.
Am 8. November war bereits ein Kommando des S.D. Düsseldorf zur Terrainerkundung und eventueller Sicherung der Besprechungen, am deutschen Zollposten Herogen erschienen; bei der letzten Besprechung befand sich Schellenberg allein von deutscher Seite auf holländischem Territorium.
Am frühen Morgen des 9. November rief der Reichsführer SS, Himmler, Schellenberg in seiner Wohnung in Düsseldorf an und befahl, die englischen Offiziere des Secret Service bei der vereinbarten Besprechung entweder auf deutschem oder auf holländischem Boden zu verhaften und nach Düsseldorf zu bringen. Für die Durchführung der Verhaftung und des Abtransportes stehe ein besonderes Kommando des SD zur Verfügung. Gegen Mittag begab sich Schellenberg mit seinem Wagen zur deutschen Zollstation, wo er ein Kommando von ca. 10 Unterführern der SS, unter der Leitung des SS-Sturmbannführers Alfred Hellmuth Naujoks und des SD-Angehörigen Hermann Goetsch vorfand.
Schellenberg begab sich anschließend zur Terrasse des Cafes Backus und erwartete die Ankunft der englischen Offiziere. Wie bei den früheren Treffs waren auch am 9. November die Engländer und der Oberltn. Klop im Wagen von Payne Best, einem Ford Lincoln Zephyr 1937 nach Venlo gefahren. Best hatte ferner, wie bei den vorigen Begegnungen den Garageninhaber Jan Frederik Lemmens, in dessen Garage in Den Haag Best seinen Wagen unterstellte und pflegen ließ, mitgenommen. Lemmens und Best lösten sich beim Fahren ab. An diesem Tage war die Sitzverteilung im Wagen: Payne Best am Steuer, Oberltn. Klop neben Best, hinter Best saß Lemmens und hinter Klop Major Stevens. In Venlo angekommen fuhr man zuerst zur Kaserne der Maréchaussée (Polizeitruppe). Klop stieg aus und bat den Dienststellenleiter, zur Sicherung des Treffens an der Grenze 2 Beamte nach dort zu senden. Die beiden Beamten fuhren mit dem Fahrrad an den bezeichneten Ort, trafen dort jedoch erst ein, als der Überfall bereits erfolgt war.
Klop bestieg das Auto, das dann am niederländischen Grenzzollhaus, rechts von der Straße hielt, wo Klop für die Freigabe der Durchfahrt zum Cafe Backus sorgte.
Es war inzwischen etwa 15 Uhr 15 geworden. Man war also früh am Besprechungsort. Auf der Terrasse des Cafes stand Schellenberg mit den Wirtsleuten. Er sah das Auto ankommen und soll, nach Angabe des Zeugen Lemmens vor dem Militär-Tribunal in Nürnberg, mit der Hand ein Zeichen gegeben haben. Er bewegte sich dann auf das Auto zu, das inzwischen vor dem Cafe etwas links von der Straße abgebogen war um zu parken, als von deutscher Seite plötzlich zahlreiche Schüsse fielen und vom deutschen Zollhaus kommend, ein Auto auf dem ein Maschinengewehr montiert war, schießend auf den englischen Wagen zufuhr. In dem Augenblick sprang der Oberltn. Klop aus dem Wagen, lief im Zick-Zack hinter dem Auto vorbei und schoß dabei in die Windschutzscheibe des deutschen Autos. Der neben dem Fahrer Naujocks sitzende SD-Angehörige Goetsch schoß nun ebenfalls gezielt, wie auch die anderen am Überfall beteiligten Männer, die vorher nur in die Luft geschossen hatten. Von mehreren Kugeln getroffen brach Oberltn. Klop auf der Straße zusammen. Schellenberg geriet in die Schußlinie seiner eigenen Männer, da er inzwischen an das englische Auto herangetreten war und die Insassen aufforderte, sich zu ergeben. Sie waren so überrascht, daß sie sich nicht zur Wehr setzen konnten. Außerdem waren sie nicht bewaffnet. Stevens und Best wurden in das deutsche Auto gebracht. Lemmens blieb in dem Auto von Best, in das auch der schwer verwundete und bewußtlose Oberltn. Klop gelegt wurde. Dann fuhren beide Autos zurück zum deutschen Zollhaus, wo den Gefangenen Handschellen angelegt wurden, nachdem man sie auf Waffen untersucht hatte. Beide Autos setzten dann ihre Fahrt nach Düsseldorf zum Stapo-Hauptquartier fort. Auch Schellenberg fuhr sofort nach dem Überfall nach Düsseldorf, da er die Angelegenheit für sich als erledigt betrachtete.
Der Überfall spielte sich in so kurzer Zeit ab, daß die Aussagen der Teilnehmer (in den Sitzungen des Militär-Tribunals am 17. und 18. Januar 1948 in Nürnberg, also nach ca. 8 Jahren) keine restlose Klarheit darüber brachten, ob Schellenberg das Handzeichen zum Angriff oder zur Begrüßung der Engländer gegeben, und wer von den Angreifern den tödlichen Schuß auf Klop abgefeuert hatte.
Am 10. November wurden Major Stevens, Cap. Best und der Fahrer Lemmens von Schellenberg und seinen Begleitern in den beiden Autos nach Berlin übergeführt. Vorher hatte man in Düsseldorf bei der Stapo die Personalien festgestellt und die Ausweise und Papiere beschlagnahmt. Die ersten Vernehmungen fanden dann in Berlin statt. Best und Lemmens wurden in das KZ Sachsenhausen eingeliefert. Major Stevens kam später nach München. Lemmens kam am 10. Dez. 1939 in das KZ Oranienburg, wurde dort in Einzelhaft gehalten, dann aber am 2. Oktober 1940 nach Den Haag entlassen.
Oberltn. Klop hatte man im Zollhaus des Grenzdorfes Niederdorf bewußtlos zurückgelassen. Um 16 Uhr 10 am 9. 11. 39 traf dort der Hauptsturmführer Dr. Jung, Arzt der Stapo Hauptstelle Düsseldorf ein und leistete erste Hilfe an dem Bewußtlosen, der dann nach Düsseldorf gebracht und dort von Dr. Jung eingehend untersucht wurde. Dr. Jung schrieb darauf seinen Bericht über den Befund und den Zustand der Wunden (ca. 17 Uhr 45 Um 18 Uhr 25 wurde der noch immer bewußtlose Obltn. Klop in das städtische evang. Krankenhaus eingeliefert und dem dortigen Chefarzt Dr. Behrends übergeben, der dann meldete, daß der eingelieferte Patient, dessen Namen ihm nicht mitgeteilt worden war, nach andauernder Bewußtlosigkeit um 19 Uhr 35 gestorben sei. Dr. Behrends schrieb keinen Totenschein aus, legte jedoch eine entsprechende Notiz über den Patienten und den Tod in die Krankenhausakte.
Bald danach wurden eine Reihe von Fälschungen durchgeführt. Auf Anweisung von Berlin wurden die medizinischen Befunde über die Art der Verwundungen, deren Schwere, die Bewußtlosigkeit und den Tod von Klop gefälscht. Man fabrizierte ein erstes Geständnis von Klop, das den Nachweis der Neutralitätsverletzung durch Holland erbringen sollte. In Zusammenarbeit mit Schellenberg brachte es der Obersturmbannführer Oberreg. Rat Dr. Hasselbacher von der Staatspolizeistelle Düsseldorf fertig, diese Neufassung der Verwundungen, deren Schwere sowie ein Vernehmungsprotokoll herzustellen.
Der Arzt Dr. Jung erklärt, daß er am 9.11.39 um 17 Uhr 45 in das Zimmer der Fahrbereitschaft Düsseldorf des SD gerufen worden sei, wo er einen Verwundeten vorfand; der Patient sei bei vollem Bewußtsein gewesen; eine Vernehmung des Patienten habe um 17 Uhr 50 begonnen. Der Patient habe klare und gute Antworten gegeben. Nach 1/2 Stunde habe der Patient um Abbruch der Befragung gebeten, worauf er ins evang. Krankenhaus überführt worden sei. Das Vernehmungsprotokoll weist nur die Unterschrift von Hasselbacher und eine gefälschte Unterschrift von Klop auf, dagegen fehlt eine Unterschrift des bei der Vernehmung anwesenden Arztes Dr. Jung als Zeuge.
Aus den Akten des evang. Krankenhauses wurde später die Notiz des Chefarztes Dr. Walter Behrends über den Tod von Klop und dessen Ursache entfernt. Hierfür hatte Schellenberg den Arzt Dr. Walter Behrends, der inzwischen zur Wehrmacht einberufen worden war, im Dezember 1939 von Wandern nach Berlin kommen lassen und dann nach Düsseldorf geschickt. (Lt. Aussage Dr. B. vom 18.2.48 in Nürnberg). Das Protokoll der Aussage des bis zu seinem Tode bewußtlos gewesenen Klop ist. wie die spätere Gerichtsverhandlung ergab, eine Fälschung. Die so wichtige Aussage Klops wurde wie folgt formuliert: "Ich weiß davon, daß meine näheren Vorgesetzten die Durchführungsmöglichkeit dieser Umsturzpläne zwar auch, wie ich, skeptisch beurteilten, jedoch offenbar im Interesse der Vereinbarungen und Verhandlungen des holländischen Generalstabes mit dem englischen Generalstab immer weiter unterstützten.
Wenn ich danach gefragt werde, ob solche Besprechungen stattgefunden haben, so kann ich hierzu aus meiner Kenntnis nur sagen, daß dies der Fall gewesen ist, und zwar weiß ich es, da ich selbst als Offizier des holländischen Nachrichtendienstes Begleitoffizier bei einer Generalstabsbesprechung zwischen England und Belgien in Brüssel war. Auf die Frage, ob dann die Generalstabsbesprechungen Hollands und Englands zeitlich vorher lagen, muß ich mit "Ja" antworten ..." Wahrhaftig ein klar formuliertes und in bemerkenswert gutem Deutsch abgefaßtes Protokoll eines Sterbenden. -
Dr. Walter Behrends ist über den Namen des Toten und dessen Herkunft nicht unterrichtet worden.
Der Tote wurde am 29. Dez. 39 aus dem Krankenhaus in das Stapo-Hauptquartier Düsseldorf gebracht. Danach
dem Prof. Hübschmann zur Einbalsamierung mit der Bemerkung übergeben, daß es sich bei dem
Toten um den Kommunisten Thomas Kemp handele, dessen Leichnam man für Identifizierungszwecke in einem
Gerichtsverfahren noch nötig habe. Bald darauf soll dann der Leichnam verbrannt und die Urne als die des
Thomas Kemp auf einem Urnenfriedhof in Düsseldorf begraben worden sein. Man hat diese Urne nie
gefunden. Oberreg. Rat Hasselbacher von der Stapo Düsseldorf konnte nicht vernommen werden, da er
während des Krieges gefallen ist.
Die niederl. Regierung hatte nach dem Grenzzwischenfall die Herausgabe der Leiche des Oberltn. Klop verlangt. Von der deutschen Regierung ist auf diese Bitte nicht eingegangen worden.
Nach dem Grenzzwischenfall wurden die Akteure mit dem eisernen Kreuz ausgezeichnet. Das eiserne Kreuz I. Klasse erhielten die beiden Führer des Überfallkommandos, Naujoks und Goetsch und Schellenberg.
Das Unternehmen Venlo, die geführten Besprechungen der Stapo mit Stevens und Best, sowie die Teilnahme eines holländischen Generalstabsoffiziers unter der Tarnung eines englischen Captains, sowie dessen Aussage in Düsseldorf wurden in der Kriegserklärung der deutschen Regierung vom 10. Mai 1940 als Beweise für den Neutralitätsbruch der niederländischen Regierung erwähnt.
Über das Venlo-Ereignis brachte die niederländische Zeitung "Het Vaderland" vom 22. Nov. 1939 lediglich einen Bericht des Deutschen Büros (D. N. B.) aus Berlin, in dem es zum Schluß heißt: "... Am 9. Nov. versuchten nun die Leiter dieses British-Intelligence Service für Europa. die Herren Best und Kapt. Stevens, die niederländische Grenze nach Deutschland bei Venlo zu überschreiten. Sie wurden dabei durch die deutschen Grenzbeamten überwältigt und als Gefangene an die Staatspolizei abgeliefert.
Die strittigen Äußerungen hinsichtlich ihrer Gefangennahme, ob diese noch auf niederländischem Gebiet oder auf deutschem Gebiet erfolgt ist, werden zur Zeit untersucht."
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Am 11. Nov. 1939 war der Verfasser dieses Artikels zu einer Besprechung ins Park Hotel nach Düsseldorf befohlen.
Anwesend waren Admiral Canaris. Oberst i. G. Piekenbrock und "Onkel Richard" [Korvettenkapitän
a.D. Richard Protze]. Der Admiral fragte "Onkel Richard": "Na, Richard, was machen denn Deine Freunde
drüben, Stevens und Best?" Onkel Richard: "Die werden ständig überwacht, Herr Admiral."
Darauf Canaris: "So, aber im Augenblick sitzen beide in Berlin in der Prinz Albrechtstraße bei der Stapo."
Onkel Richard sperrte Mund und Augen auf. Canaris weiter; "Diese Schweinerei hat uns Heydrich eingebrockt."
Dann berichtete Canaris, was man ihm über den Grenzzwischenfall gemeldet hatte.
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Quellenmaterial
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Protokolle der Verhöre vor dem American Military Tribunal in Nürnberg
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Unterlagen des Rijksinstitut voor Oorlogsdocumentatie Amsterdam
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Aussagen und Vernehmungen Im Schellenberg Prozeß vor dem Militärgericht in Nürnberg 1948.
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Berichte der holl. Enquête Commissie Regeringsbeleid 1940-1945, Band 2a und b.
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S.B.
Quelle: Walter Schulze-Bernett, Der Grenzzwischenfall bei Venlo/Holland, in: Die Nachhut,
Nr. 23/24 vom 15.5.1973, München 1973;
Schreibfehler, auch bei Personen- und Ortsnamen, wurden originalgetreu übernommen sowie einige
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