Harro Schulze-Boysen
Rote Kapelle: Widerstand gegen Hitler und Spionage für Stalin
Die Berliner Widerstandsgruppe um den Luftwaffen-Oberleutnant Harro Schulze-Boysen wurde bis in die 1990er Jahre unter dem Begriff Rote Kapelle als ein von Moskau gesteuerter Spionagering wahrgenommen. Inzwischen weiß man, dass es sich um eines der größten Netzwerke von Gegnern des Dritten Reichs handelte, die auf vielfältige Weise Widerstand betrieben. Der harte Kern arbeitete aber in der Tat mit Stalins Nachrichtendiensten zusammen, was dann auch 1942 zur Entdeckung durch die Gestapo führte.
VON PETER KOBLANK (2014)
Harro Schulze-Boysen (* 2. September 1909 in Kiel; 22. Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee) war Referent im Reichsluftfahrtministerium und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. 1941 wurde er zum Oberleutnant der Reserve befördert.
Seine Jugend verbrachte er in Berlin und Duisburg, wo er 1928 das Abitur machte. Ab dieser Zeit verwendete er statt seines eigentlichen Namens Schulze den Doppelnamen Schulze-Boysen, indem er den Geburtsnamen seiner Mutter anhängte.
1928 begann er in Freiburg ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften, das er 1929 in Berlin fortsetzte. Politisch engagierte er sich beim Jungdeutschen Orden.
1932 brach er sein Studium ab und wurde Herausgeber und Redakteur der Monatszeitung Der Gegner, die insgeheim von der sowjetischen Botschaft finanziert und 1933 von den Nationalsozialisten verboten wurde. Schulze-Boysen wurde in diesem Zusammenhang von der SA verhaftet, inhaftiert und misshandelt.
Nach seiner Freilassung absolvierte er ab Mai 1933 eine Ausbildung als Seebeobachter an der Deutschen Verkehrsfliegerschule in Warnemünde, einer verdeckt arbeitenden paramilitärischen Ausbildungsbasis für die spätere Luftwaffe.
Ab April 1934 war Schulze-Boysen Hilfsreferent in der Abteilung Fremde Luftmächte des Reichsluftfahrtministeriums in Berlin, wo er ausländische Fachliteratur auswertete. Im März 1936 wurde er zum Gefreiten der Reserve befördert.
Sein fehlender akademischer Abschluss schränkte seine Karrieremöglichkeiten ein. Immerhin wurde er Ende 1936 nach einer Reserveübung zum Unteroffizier der Reserve befördert und nach einer weiteren Übung im April 1937 Offiziersanwärter.
1936 heiratete er Libertas Haas-Heye (* 20. November 1913 in Paris), Pressereferentin der Filmgesellschaft Metro-Goldwyn-Mayer (MGM). In diesem Zusammenhang ließ er seinen Doppelnamen offiziell eintragen.
Seine Spionagetätigkeit soll er erstmals aufgenommen haben, als er 1938 die sowjetische Botschaft über ein Kommandounternehmen der Abwehr, des militärischen Geheimdiensts der Wehrmacht, im Spanischen Bürgerkrieg informierte, was die Verratenen das Leben kostete.
1935 kam Schulze-Boysen in Verbindung mit Arvid Harnack, einem Regierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, der Geheimmitglied der KPD und bereits seit 1932 oder 1935 vom sowjetischen Auslandsnachrichtendienst rekrutiert worden war. In dieser Zeit sammelte sich um Schulze-Boysen eine oppositioneller Freundeskreis.
Nachdem seine Frau Libertas den Reichsminister der Luftfahrt Hermann Göring als Fürsprecher gewonnen hatte, wurde Schulze-Boysen 1939 zum Leutnant und 1941 zum Oberleutnant der Reserve befördert.
1940 absolvierte er ein Fernstudium an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität mit dem Ziel der Promotion, das er aber im Januar 1941 wegen seiner Verwendung im Luftwaffenführungsstabs in Potsdam-Wildpark abbrechen musste.
Ab Frühjahr 1941 gab Schulze-Boysen militärische Informationen an den sowjetischen Auslandsnachrichtendienst weiter. Inzwischen arbeitete er in Wildpark-West bei Potsdam, wo sich das Hauptquartier der Luftwaffe und der Sitz des Oberbefehlshabers der Luftwaffe befanden. In der Attachégruppe des Luftwaffenführungsstabs bearbeitete er die Berichte der an den Botschaften tätigen Luftwaffenattachés und bekam Zugang zu geheimen Dokumenten. Ab Dezember 1941 arbeitete er wieder im Reichsluftfahrtministerium.
Gleichzeitig baute er einen Widerstandskreis auf, der nach dem Krieg Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe genannt wurde, zu dem schließlich über hundertfünfzig Hitlergegner gehörten. Sie verteilten Flugblätter, brachten Parolen an Gebäuden an, veranstalteten Schulungen zu Fragen des Kommunismus und unterstützten Verfolgte.
Das über Belgien, Frankreich, die Niederlande, Schweiz und Deutschland gespannte sowjetische Spionagenetz, wurde von der Abwehr und der Gestapo Rote Kapelle genannt. Der Begriff Rote Kapelle entstand, weil man in der Geheimdienstsprache die Funker, die mit Kurzwellensendern morsten, Pianisten nannte. Mehrere Pianisten formten eine Kapelle, also war dieser kommunistische Spionagering eine Rote Kapelle.
Die Berliner Rote Kapelle bestand überwiegend aus Mitgliedern der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe.
Schulze-Boysen stand mit beiden Geheimdiensten der UdSSR in Verbindung: Mit dem Auslandsnachrichtendienst des NKWD (Februar bis Juli 1941 NKGB) unter dem Decknamen Starschina (dt.: Feldwebel) und mit dem Militärnachrichtendienst GRU unter dem Decknamen Choro (ähnlich, wie man auf russisch Harro ausspricht).
Der genaue Umfang der durch seinen Agentenring nach Moskau weitergegebenen Nachrichten und der tatsächliche Effekt dieses Geheimnisverrats auf den Verlauf des Zweiten Weltkriegs wurden bisher noch nicht wissenschaftlich aufgearbeitet.
Im Juli 1942 wurde ein im August 1941 von Moskau nach Brüssel gesendeter Funkspruch durch die Gestapo dechiffriert, in dem Schulze-Boysens Name und Adresse standen. Am 31. August 1942 wurde er wegen Hochverrat (Versuch, die Regierung zu stürzen) und Landesverrat (Spionage für das Ausland) verhaftet.
Am 19. Dezember wurde Schulze-Boysen vom Reichskriegsgericht wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Kriegsverrats, Zersetzung der Wehrkraft und Spionage zum Tode verurteilt und am 22. Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee erhängt. Seine Frau Libertas wurde am selben Tag enthauptet.
Zwischen August 1942 und März 1943 wurden weit über hundert Mitglieder verhaftet. 57 der Verhafteten, darunter 19 Frauen, verloren ihr Leben, wobei der Großteil nach einem Todesurteil des Reichskriegsgerichts oder des Volksgerichtshofs hingerichtet wurde. Einige begingen Selbstmord, bei anderen ist die Todesart ungeklärt. Über siebzig Prozent der 57 Toten waren Kommunisten.
Die UdSSR verlieh 1969 Harro Schulze-Boysen posthum den militärischen Rotbannerorden, weil er "zur Verstärkung des Widerstandskampfes gegen Hitlerdeutschlands" bereit gewesen war, "die Sowjetunion als Kundschafter zu unterstützen".
Die Vorstellung, die Berliner Widerstandskämpfer seien nichts anderes als von der Sowjetunion angeheuerte Landesverräter gewesen, bestimmte bis in die 1990-er Jahre die Sicht auf die Rote Kapelle: Während sie in der Bundesrepublik Deutschland als kommunistische Spione verachtet wurden, galten sie in der DDR - allerdings erst ab Ende der 1960-er Jahre - als antifaschistische "Kundschafter des Volkes" und Helden.
Inzwischen weiß man, dass es sich um ein politisch links orientiertes, aber keineswegs von der KPD gesteuertes, heterogenes Netzwerk von Hitlergegnern handelte, die auf vielfältige Weise Widerstand betrieben.
Ein Teil von ihnen, möglicherweise weniger als die Hälfte, sammelte jedoch in der Tat gemeinsam mit Schulze-Boysen und Harnack, nach denen die Gruppe nicht zu Unrecht genannt wird, systematisch Informationen für Stalins Nachrichtendienste.
Bis heute ist es für viele Menschen ein Rätsel, wie sich jemand guten Gewissens in den Dienst eines fremden Spionageapparates stellen konnten, warum Schulze-Boysen das Heil bei einem totalitären Staat suchte, der mit seinem Terrorsystem, seinen rigiden Schauprozessen und seinen Millionen politischen Opfern dem Nationalsozialismus letztlich gar nicht so unähnlich war.
Dokumentation
- Kommentare
- Widerstand gegen Hitler: Beispiele
- Spionage für Stalin: Beispiele
- Verhaftung und Tod
- Gestapo-Bericht Rote Kapelle
- Liste der Verhafteten und Toten der Berliner Roten Kapelle
- Nachwirkung
- Anhang
Kommentare
Die Tätigkeit der Widerstandsgruppe bleibt in der Reichshauptstadt nicht unbemerkt: Verteilung von Flugblättern, Ankleben von Anschlagzetteln, Verbreitung einer Zeitung in fünf Sprachen, Die innere Front, unter den Kriegsgefangenen. Aber die Arbeit beschränkt sich nicht nur auf Propaganda: Es werden Fluchtwege für die Juden und die Gefangenen ausgebaut, Kontakte mit Fremdarbeitern aufgenommen, in vielen Unternehmen Gruppen eingeschleust, welche unauffällig die Kriegsproduktion sabotieren. Eine der spektakulärsten Initiativen galt der von Goebbels' Dienststellen organisierten Ausstellung "Das Sowjetparadies". [...] Schulze-Boysen tritt faktisch erst 1941 mit dem sowjetischen Nachrichtendienst in Verbindung. Er hat schon seit 1936 eine gewisse Erfahrung erlangt, indem er dem sowjetischen Botschafter die Liste der nationalsozialistischen Agenten übermittelte, die sich in die Internationalen Brigaden in Spanien einschmuggelten. [...] Die eigentliche Gruppe, die sich ausschließlich dem militärischen Nachrichtendienst widmen sollte, wurde 1941 von Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack gebildet. Wenn man die Liste der Verhafteten sorgfältig untersucht, stellt man fest, dass nicht mehr als 20 bis 25 Menschen dazugehörten. Die elementarsten Regeln der Konspiration hätten nun verlangt, dass die Gruppe strengstens von allen anderen Gruppen des inneren Widerstands, sei es in der Leitung oder der Mitarbeit, abgetrennt würde. Aber das Unglaublichste geschah: Als offizielle Vertreter der KPD wurden die bekannten illegalen kommunistischen Militanten Wilhelm Guddorf und John Sieg in die Leitung der Gruppe Schulze-Boysen/Harnack integriert. Ungeachtet ihrer neuen Aufgaben leiteten Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack weiter gemeinsam mit John Sieg und Wilhelm Guddorf, Walter Husemann, Herbert Grasse und anderen führenden Kommunisten die Aktionsgruppen des inneren Widerstands. [...] Bis Ende Oktober 1942 fielen über 130 Menschen in die Hände der Gestapo. Wer waren diese Leute? Ungefähr 25 Menschen hatten direkt oder indirekt der Nachrichtendienstgruppe von Schulze-Boysen/Harnack angehört; alle acht Fallschirmspringer; zehn Leute, die sich seit 1930 am sowjetischen Nachrichtendienst beteiligten, aber nichts mit der Roten Kapelle zu tun hatten. Diese Leute waren seit 1937 ohne Verbindung zur Zentrale in Moskau. Erst nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges nahm die Zentrale über die Vermittlung der Roten Kapelle wieder Kontakt zu ihnen auf, was wiederum für die Angehörigen der Roten Kapelle eine zusätzliche Gefahr bedeutete. Alle anderen Verhafteten hatten nichts mit der Arbeit des Nachrichtendienstes zu tun, sondern bildeten allgemeine Widerstandsgruppen gegen den Nazismus. Leopold Trepper: Die Wahrheit. Autobiographie des "Grand Chef" der Roten Kapelle. Freiburg 1995, S. 100 f, S. 135, S. 137 f (Erstveröffentlichung Le Grand Jeu, Paris 1975) |
Natürlich interessierten uns auch die Motive dieser Intellektuellen. Geld war für sie unwichtig. Wie aus den Vernehmungsprotokollen ersichtlich, beschränkte sich ihr Widerstand nicht auf die Bekämpfung des Nationalsozialismus schlechthin, sie hatten sich zum Teil von der Geisteshaltung des von ihnen krank empfundenen Westens soweit abgekehrt, dass sie das Heil der Menschheit überhaupt nur noch im Osten sahen. Walter Schellenberg: Aufzeichungen. Die Memoiren des letzten Geheimdienstchefs unter Hitler. München 1979, S. 251 f (Erstveröffentlichung London 1956) |
Der Krieg im Äther spielte im letzten Kriege eine große Rolle. Auch die Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack hat versucht, mit ihren Sendungen das deutsche Volk von der Aussichtslosigkeit und dem Verbrechen des Krieges zu überzeugen. Sie wollten den demokratisch gesinnten Menschen anderer Völker beweisen, daß die Stimme der Freiheit, der Menschenwürde und Menschenachtung, trotz Hitlerterror und Verfolgung im deutschen Volkes nicht völlig verstummt war. So führten sie einen heroischen Kampf im Interesse Deutschlands, sich stets ihrer Aufgabe bewußt, die Menschheit von der Qual des Krieges zu erlösen ihrem eigenen Volke Frieden und Glück wiederzugeben, ihr eigenes Glück nicht achtend, bis zu dem Tage, an dem es der Gestapo gelang, auf ihre Spuren zu kommen und damit der Tätigkeit der meisten Mitglieder ein jähes Ende zu bereiten. Klaus Lehmann (Bearbeiter): Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack, Zentrale Forschungsstelle der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN, Berlin 1948, S. 15 f. Faksimileausgabe der Seiten 3 bis 27 und 86 bis 88. PDF 1,7 MB Diese erste ausführliche Veröffentlichung über die Schulze-Boysen-Harnack-Gruppe stammt von der kommunistisch gelenkten VVN. Die Spionagesender, die vom sowjetischen Nachrichtendienst zur Verfügung gestellt worden waren, werden hier in Geräte umgedeutet, die "mit ihren Sendungen das deutsche Volk" aufklären sollten. Dies zeigt, dass man sich zur Spionage für Stalin nicht bekennen wollte, weil diese mit den damals gängigen moralischen Maßstäben nicht in Einklang zu bringen war. |
Die "Rote Kapelle" wollte Rußlands Sieg, um mit russischer Hilfe in Deutschland einen kommunistischen Staat nach sowjetrussischem Muster zu erreichen – einen Staat, den die überwältigende Mehrheit der Deutschen sich nur mit Gewalt hätte aufzwingen lassen und der schon diesem seinem Ursprung nach ein sowjetrussischer Vasallenstaat hätte werden müssen, so gut wie heute Polen und die Tschechoslowakei. Von deutscher Freiheit war dann keine Rede mehr, und so bleibt diese kommunistische Opposition von dem Kreise Goerdelers, aber auch der deutschen Sozialdemokratie durch Welten getrennt – auch wenn ihnen das allernächste Ziel, der Sturz Hitlers, gemeinsam war. Gerhard Ritter: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung. Stuttgart 1954, S. 103 f |
Hans Rothfels: Die deutsche Opposition gegen Hitler. Eine Würdigung. Frankfurt/Hamburg 1958, S. 17 (stark revidierte Auflage gegenüber der Erstauflage 1949) |
Es ist eine Tatsache, daß die meisten Mitglieder des "inneren Kreises" nicht einmal etwas von der Existenz des "äußeren Kreises" ahnten. Es ist eine weitere Tatsache, daß der "innere Kreis" der weitaus ältere war, da er sich bereits 1936 bildete, während der "äußere Kreis" etwa 1940 seine Arbeit begann. Er setzte sich nur zum Teil aus bisherigen Mitgliedern zusammen, die damals von Schulze-Boysen einzeln und ohne Wissen der anderen für ihre neuen Aufgaben herangezogen wurden. Während die Flugblattarbeit etwa 1941 aufhörte, begann der "äußere Kreis" die Senderarbeit. [...] Es scheint ab 1941 ein regelmäßiger Funkverkehr des "äußeren Kreises" mit belgischen und russischen Stellen stattgefunden zu haben, bei dem Nachrichten wirtschaftlicher oder militärischer Art durchgegeben wurden. Diese Funknachrichten sind anscheinend aus Berliner Wohnungen und von einem Segelboot gesendet worden. Günther Weisenborn: Der lautlose Widerstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933-1945. Hamburg 1962, S. 189 und 198 (Erstveröffentlichung Hamburg 1953) Weisenborn wurde im September 1942 als Unterstützer der Roten Kapelle verhaftet und vom Reichskriegsgericht zu zehn Jahren Festungshaft verurteilt. Mit dem Konstrukt eines "inneren" und eines "äußeren Kreises" stellt er die Tatsachen auf den Kopf, da die Spionagetätigkeit in Wirklichkeit aus dem Zentrum um Schulze-Boysen und Harnack, die er zu Recht als "die beiden Leiter der Widerstandsorganisation" (S. 190) bezeichnet, heraus betrieben wurde. Es mag sein, dass etliche Mitglieder der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe von den nachrichtendienstlichen Aktivitäten nichts gewusst haben und diese vielleicht auch nicht gebilligt hätten. Dies gilt allerdings nicht für Weisenborn. 1969 wurde ihm vom Präsidium des Obersten Sowjets der postum der Orden des Vaterländischen Krieges Erster Stufe verliehen. Hierzu berichtete das SED-Organ Neues Deutschland am 23. Dezember 1969 auf Seite 5: "Er hatte von den Funkverbindungen einiger Mitglieder der illegalen Gruppe zu sowjetischen Organen Kenntnis und lieferte dafür Berichte und Informationen." |
Mit solchen Bemühungen wird der Gruppe Schulze-Boysen/Harnack ein politisches Vorzeichen aufgedrängt, das sie nie getragen hat. Sie war ein Zusammenschluss junger Kommunisten, Marxisten und linker Pazifisten, sie rekrutierte sich aus der Arbeiterschaft und der linksintellektuellen Künstlerschaft, sie hatte sich – nicht ohne sektiererische Untertöne – zum kompromisslosen Kampf gegen die Nazidiktatur entschlossen, aber sie war schwerlich repräsentativ für den deutschen Nonkonformismus im Dritten Reich. In der Gruppe war weder die sozialdemokratische Arbeiterschaft vertreten noch jener preußischer Adel, der am 20. Juli 1944 gegen die braunen Emporkömmlinge revoltierte; in ihr saßen nicht die Repräsentanten des liberalen Bürgertums, fand kein Berufsoffizier, kein Gewerkschaftler, kaum ein Beamter seine geistige Heimat. Heinz Höhne: ptx ruft moskau. Die Geschichte des Spionageringes "Rote Kapelle". 7. Fortsetzung. Das Ende der Gruppe Schulze-Boysen/Harnack. In: Der Spiegel 28/1968 (8. Juli 1968), S. 70. PDF 1,3 MB |
Man sprach nur von den politischen Aktivitäten der Gruppe im Untergrund, von der Verbreitung von Broschüren, Aufrufen und einer alle zwei Wochen erscheinenden Zeitung; Schulze-Boysen wurde auf einen heldenhaften Verteiler von Flugblättern reduziert, die Arbeit seiner Gruppe als eine politische Agitation von zweifelhafter Wirksamkeit dargestellt. Nach 1967 änderte sich das. Gilles Perrault: Auf den Spuren der Roten Kapelle. Wien/Zürich 1990, S. 542 (Erstveröffentlichung L'Orchestre rouge, Paris 1967) |
Diese Organisation war eine leuchtende Verkörperung der Ideen der einheitlichen antifaschistischen Front, für die die Kommunistische Partei Deutschlands unter der Führung von Ernst Thälmann kämpfte. [...] Schon über die ersten Pläne Hitlers eines militärischen Überfalls auf die UdSSR informierten die Führer der Organisation unverzüglich die Vertreter der Sowjetunion. Im folgenden berichteten die Führer der Organisation alles, was über die Vorbereitungen Nazideutschlands für den Überfall auf die UdSSR bekannt wurde, nach Moskau. All das war ein großer Beitrag zu der großen Sache der späteren Zerschlagung des Nazismus. Hohe sowjetische Orden für antifaschistische Widerstandskämpfer. Botschafter Abrassimow überreichte die Auszeichnungen. In: Neues Deutschland, 23. Dezember 1969, Seite 1f |
Immer wieder hörte ich von Schwierigkeiten bei den Funksendungen wie beim Empfang. Als sich im November die Offensive auf Moskau konzentrierte, konnten besonders Schulze-Boysen und Harnack selbst ermessen, wie wichtig genaue, überprüfte Informationen waren. [...] Eines Tages nahm mich mein Mann mit hinaus auf den Dachgarten. "Arvid hat darauf bestanden, dass ich dich einweihe. Es kann sein, dass plötzlich ein Genosse aus dem Ausland vor der Tür steht. Brüssel ist unterrichtet worden, dass jemand bei uns die Technik in Ordnung bringen müsse. Wir müssen den Nachrichtenfluss sicherstellen. In dem Funkspruch nach Brüssel sind unsere Namen angegeben, Harnacks, Schulze-Boysens und unserer - auch deiner." [...] Plötzlich hörten wir, daß eine Gruppe junger Kommunisten, die Gruppe Baum, am 15. Mai 1942 Feuer gelegt hätte an die "Sowjet-Paradies"-Ausstellung. Zu ihnen gehörten vor allem auch solche, die von den Nazis als "Juden" oder "Halbjuden" bezeichnet wurden, frühzeitig den Klassencharakter des Rassismus erkannt und den Kampf gegen den Faschismus konsequent fortgesetzt hatten. Die Genossen wurden, wie sich später herausstellte, von einem Spitzel verraten und verhaftet. Täuscht mich meine Erinnerung nicht, so kam Harro Schulze-Boysen zu jener Zeit der Gedanke, besonders in der Nähe der Lustgartenausstellung eine Klebeaktion mit Handzetteln durchzuführen: Ständige Ausstellung Arvid hatte kurz nach dem Gerücht von der "Brandstiftung" meinen Mann und mich gebeten, die Ausstellung nochmals zu besuchen. Wir kannten sie schließlich, hatten gesehen, wie die Besucher darauf reagierten. Wir sollten nun herausfinden, ob sich eine Wandlung in der Stimmung der Besucher vollzogen habe. Sie war noch gehässiger, noch feindlicher als zuvor - wir hatten eigentlich eine Steigerung kaum für möglich gehalten. Von der Brandstelle war wenig zu sehen, aber wie ein Lauffeuer war das Gerücht verbreitet: Juden haben versucht, die Ausstellung anzustecken - sie können die Wahrheit nicht vertragen. Uns schien diese Zettelklebeaktion gerade zu jener Zeit, als sich Harro wie alle diejenigen, die mit der Nachrichtenübermittlung - inhaltlich oder technisch - zu tun hatten, darauf konzentrieren mußten, nicht besonders glücklich. Greta Kuckhoff: Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle. Berlin (Ost) 1972 S. 227, 308 und 320 f Bereits 1948 hat Greta Kuckhoff einen Artikel mit dem Titel Rote Kapelle verfasst, der jedoch äußerst nebulös war. |
Widerstand gegen Hitler: Beispiele
Flugblatt - Winter 1941/42 |
Flugblatt - Anfang 1942 | |
Klebezettel - Mai 1942 Im DDR-Spielfilm KLK an PTX - Die Rote Kapelle sieht man KPD-Funktionär John Sieg (Darsteller: Günther Simon) bei der "Nazi-Paradies"-Klebeaktion. |
Kommunistische Zeitung - August 1942 |
Spionage für Stalin: Beispiele
Verhaftung und Tod
Dieser Auftrag war von Aleksiej Panfilow (Leiter des Militärnachrichtendienstes GRU), Iwan Iwanowitsch Iljitschow (Kommissar der GRU) sowie von Pawel Fitin (Leiter des Auslandslandsnachrichtendienstes des NKWD) unterzeichnet. Im Oktober 1941 kam es tatsächlich in Berlin zu einem Treffen von Kent und Schulze-Boysen. Dieser Funkspruch wurde der Berliner Spionage- und Widerstandsgruppe zum Verhängnis: Er war zwar verschlüsselt, konnte aber knapp ein Jahr später von der Gestapo decodiert werden. Funkspruch zitiert nach Coppi/Danyel/Tuchel, a.a.O. S. 138. Polizeifotos nach der Verhaftung. Das mittlere diente als Vorlage für die 1983 von der DDR herausgegebene Briefmarke. Todesurteil des Reichskriegsgerichts vom 19. Dezember 1942, Abschiedsbrief vom 22. Dezember 1942.
Liste der Verhafteten und Toten der Berliner Roten Kapelle
Nachwirkung
"Das Thema dieses Tatsachenberichtes ist zweifellos eines der "heißesten Eisen", mit denen sich eine Zeitung in Deutschland heute beschäftigen kann. Wenn man das über ganz Europa gebreitete Netz der sowjetischen Spionage darstellen will, dann kommt man um eine Aufrollung des Falles "Rote Kapelle" nicht herum. Unter diesem Namen wurde mitten im Kriege die entscheidende Agentengruppe des Kreml in Deutschland ausgehoben und abgeurteilt. Die Namen ihrer Mitglieder, von denen eine Reihe hingerichtet wurde, erschienen nach 1945 in den Ehrenlisten der Widerstandskämpfer gegen Hitler. Manche entgingen dem Urteil, manche entgingen der Bestrafung, manche wurden bei Kriegsende befreit. Einige bekleiden heute, dank ihrer angeblichen Verdienste als Widerstandskämpfer, hohe und höchste Ämter in der Deutschen Demokratischen Republik jenseits, oder in der Deutschen Bundesrepublik diesseits des Eisernen Vorhangs. [...] Wir meinen, daß derjenige, der für die Sowjets arbeitete, kein Recht hatte, sich seines Kampfes gegen die Nazis zu rühmen. Der Hochverräter, der um einer sauberen politischen Idee willen gegen das herrschende System arbeitet, hat auf die Achtung selbst seiner politischen Gegner Anspruch. Der Landesverräter, der mit dem Feind konspiriert, ist in allen Ländern der Welt, in allen Armeen und unter allen politischen Systemen noch immer als ein Lump angesehen und entsprechend behandelt worden. [...] Man kann Hitler nicht mit Stalin bekämpfen, wenn man nicht vom Regen in den Wolkenbruch geraten will. Wie wenig es den Leuten der "Roten Kapelle" um Hitler, und wie sehr es ihnen um die Bolschewisierung Deutschlands und der Welt zu tun war, das geht allein aus der Tatsache hervor, daß die kommunistische Agententätigkeit für Sowjetrußland mit dem Zusammenbruch des Naziregimes keineswegs beendet war. Das Netz spannt sich heute dichter denn je. [...]" Kompletter Text der Einleitung Inschrift am Bundesministerium der Finanzen in Berlin, das heute im ehemaligen Luftfahrtministerium, wo Schulze-Boysen arbeitete, untergebracht ist. Die aus DDR-Zeiten stammende Inschrift befindet sich in der Niederkirchnerstraße. Die linke DDR-Sonderbriefmarke vom 24. März 1964 im Wert von 20+5 Pfennig erschien im Rahmen einer Serie zur Erinnerung an den kommunistischen Widerstand mit einer Auflage von 3 Millionen. Vermutlich wollte man in dem Jahr, in dem sich der Aufstand vom 20. Juli zum zwanzigsten Mal jährte, einen Gegenpunkt setzen. Es fällt auf, dass nicht etwa ein Funker beim Senden von Botschaften an den sowjetischen Nachrichtendienst abgebildet ist, sondern die friedliche, damals aber lebensgefährliche Produktion von Flugblättern. – Die rechte DDR-Sonderbriefmarke vom 22. März 1983 im Wert von 85 Pfennig erschien mit einigen Monaten Verspätung nach dem vierzigsten Todestag mit einer Auflage von 2,1 Millionen. Der neben den am 22. Dezember 1942 hingerichteten Harnack und Schulze-Boysen abgebildete John Sieg hat bereits am 15. Oktober 1942 Selbstmord verübt.
Der Rotbannerorden der Sowjetunion wurde für militärische Heldentaten verliehen.
Die kyrillischen Buchstaben CCCP sind die Abkürzung für Union der sozialistischen Sowjetrepubliken. Die russische Inschrift lautet Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!
Schulze-Boysen bekam ihn am 6. Oktober 1969 auf Vorschlag des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit posthum verliehen. Die am 6. Oktober 1969 mit Orden ausgezeichneten Personen, die im Neuen Deutschland vom 23. Dezember 1969 auf Seite 4 und 5 vorgestellt wurden, sind in der Liste der Opfer kenntlich gemacht. Wie man dort erkennen kann, erhielten andere Mitglieder der Roten Kapelle höhere Orden als Schulze-Boysen. Sein Orden wurde von einem Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft in Bonn den in Mülheim wohnenden Eltern überbracht. Weiterhin bekam Kurt Fischer "als Leiter von sowjetischen Kundschaftergruppen in verschiedenen Ländern" den Rotbannerorden. Nach Worten Abrassimov wurden "auf Grund einiger Erwägungen" nicht alle Namen der mit sowjetischen Orden ausgezeichneten Teilnehmer der Widerstandsorganisation Schulze-Boysen/Harnack bekanntgegeben. Die Leiter der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe bekamen posthum sowjetische Orden, weil sie seit 1935 bzw. 1941 als "Kundschafter für die UdSSR" wichtige politische,
wirtschaftliche und militärische Informationen übermittelten.
In 14974 Ludwigsfelde und 39116 Magdeburg gibt es Harro-Schulze-Boysen-Straßen. In 04317 Leipzig, 10365 Berlin (seit 1. März 1972, Bild), 18069 Rostock und 47169 Duisburg gibt es nach dem Ehepaar Libertas und Harro benannte Schulze-Boysen-Straßen. In Kiel, dem Geburtsort Schulze-Boysens, erhielt im Jahr 2009 anlässlich seines 100. Geburtstags ein 412 Meter langer Rad- und Fußweg im Pastor-Husfeldt-Park den Namen Harro-Schulze-Boysen-Weg. Links: Gedenkstein neben einem von Hans Kies geschaffenen Reliefportrait Schulze-Boysens an der Mildred-Harnack-Oberschule in der Schulze-Boysen-Straße 12 in 10365 Berlin. Die Installation wurde Pfingsten 1979 durch die FDJ-Bezirksorganisation Gera anläßlich des Nationalen Jugendfestivals der DDR eingeweiht. – Rechts: Gedenktafel am früheren Wohnhaus in der Altenburger Allee 19 in 14050 Berlin, die am 29. September 1987 enthüllt wurde.
Am 24. Februar 2006 hob die Staatsanwaltschaft Berlin das Urteil des Reichskriegsgerichts gegen Harro Schulze-Boysen auf Antrag seines Bruders Hartmut Schulze-Boysen mit einem Bescheid unter dem Aktenzeichen 2 P Aufh. 3/05 auf. Der Antrag berief sich auf das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (NS-AufhG) von 1998. Durch das NS-AufhG werden Urteile, die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind, pauschal aufgehoben. Auf Antrag stellt die Staatsanwaltschaft fest, ob ein Urteil aufgehoben ist und erteilt eine entsprechende Bescheinigung. Antragsberechtigt sind der Verurteilte, nach seinem Tode seine Verwandten und Verschwägerten gerader Linie, seine Geschwister, der Ehegatte und der Verlobte. Sind alle Antragsberechtigten verstorben oder ist ihr Aufenthalt unbekannt, so hat die Staatsanwaltschaft die Feststellung von Amts wegen zu treffen, wenn dafür ein berechtigtes Interesse dargetan wird. Hartmut Schulze-Boysen erreichte diese Aufhebung, obwohl sein Bruder nach Gesetzesparagrafen als Kriegsverräter verurteilt worden war, die damals im NS-AufhG noch nicht explizit genannt waren. 2009 wurde das NS-AufhG dahingehend erweitert, dass auch zur Aufhebung von Urteilen wegen Kriegsverrats keine Einzelfallprüfung mehr erforderlich ist. Die Barrieren, die Hartmut Schulze-Boysen im Jahr 2006 noch mit entsprechenden Argumenten überwinden musste, sind damit entfallen. Die Todesstrafe für Spionage war keine für den Nationalsozialismus spezifische Rechtssprechung. Gerichte in Großbritannien oder in den USA sind im Zweiten Weltkrieg in entsprechenden Fällen zu demselben Ergebnis gekommen. – Nichtsdestotrotz gilt nach heute in Deutschland geltendem Recht die Spionage zu Ungunsten des Dritten Reichs, wie auch im Falle der Roten Kapelle, nachträglich als pauschal rehabilitiert. |
Harro Schulze-Boysen - Anhang.
Rote Kapelle. Gestapo-Bericht über die Aufrollung der Spionage- und Widerstandsgruppen.
Vergleich Lubbe - Elser - Schulze-Boysen - Scholl - Stauffenberg.
Dieser Artikel ist Teil der Online-Edition Mythos Elser.