Geheimakte "Venlo Incident"
Von britischer Regierung ursprünglich bis 2015 gesperrtDie Ereignisse, die am 9. November 1939, also am Tag nach dem Bürgerbräuattentatt auf Adolf Hitler, an der niederländischen Grenze bei Venlo in die Entführung zweier hochrangiger britischer Geheimdienstoffiziere durch ein SS-Spezialkommando mündeten, sind aus historischer Sicht - auch in ihrem Zusammenhang mit dem Attentat von Georg Elser - bisher recht umfassend aufgearbeitet. Ein wunder Punkt war jedoch bisher, trotz ansonsten guter Quellenlage, die Existenz einer anscheinend hochbrisanten, bis zum Jahr 2015 (!) gesperrten britischen Regierungsakte aus dem Jahr 1939.
VON PETER KOBLANK (2009)
Solange diese britische Akte gesperrt war, konnte niemand 100-prozentig ausschließen, dass der britische Geheimdienst, der ja damals mit vermeintlichen Oppositionellen, die in Wirklichkeit vom deutschen Sicherheitsdienstes (SD) gesteuert waren, über die Beseitigung Hitlers verhandelte, parallel dazu über andere Kanäle Elsers Attentat in Auftrag gegeben hatte. Drahtzieher vom britischen Secret Service waren ja angesichts der Unwahrscheinlichkeit, dass jemand dieses Attentat ganz allein ausgeführt haben konnte, eine äußerst plausible Annahme und nicht etwa nur vordergründige NS-Propaganda, sondern auch die feste Überzeugung der Nationalsozialisten.
Das Dossier des britischen Außenministeriums zum Venlo-Zwischenfall mit der Archiv-Nr. FO 371/231071 war auf Grundlage des Official Secrets Act2 ursprünglich bis 2015 gesperrt. Diese Sperre galt laut Bernd Martin3 im Jahr 1974 und laut Leo Kessler4 auch noch im Jahr 1991.
Bei einer Recherche im britischen Nationalarchiv in Kew im März 2009 stellte sich jedoch heraus, dass die Sperrzeit auf Grund des im Jahr 2000 in Kraft getretenen Freedom of Information Act5 rückwirkend auf 30 Jahre reduziert worden war. Die Geheimakte ist daher inzwischen zugänglich.
Das hier erstmals und vollständig publizierte Dossier zum Venlo-Zwischenfall umfasst 35 Seiten, die keine schlüssige Anordnung erkennen lassen:
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Cadogan |
Als Wegweiser durch die Akte können Seite 25, Seite 26, Seite 27 und Seite 28 dienen, die den Titel "Zusammenfassung der Ereignisse" tragen und auf Grund ihres letzten Satzes am 18. November 1939 verfasst worden sein muss.
Venlo Incident, National Archives FO 371/23107, Seite 25 (Ausschnitt)
Dort heißt es:
Kontakt mit den "deutschen Generälen" (falls dies wirklich eine korrekte Bezeichnung ist) scheint zuerst am 17. Oktober hergestellt worden zu sein von unserem Passport Control Officer in Den Haag. Die Kommunikation erfolgte zuerst telefonisch mit Oberst Teichmann (der Repräsentant der Generäle Wiedersheim und Rundstedt gewesen sein soll). Der Oberst sagte kurzgefasst, dass die Armee starkes Interesse am Frieden habe und sich gegen die Gestapo schütze; dass sie Ribbentrops Politik missbillige; und dass nur ein kleiner Stoß erforderlich sei, das Nazi-Regime zu stürzen. |
- Der Kontakt zur Opposition in der Wehrmacht war bereits seit September 1939 vom britischen Geheimdienst gesucht und geknüpft worden. Und dies garantiert nicht per Telefon.
- Richtig ist vielmehr, dass Cadogan seinem Tagebuch6 zufolge erst am 17. Oktober 1939 von Admiral Hugh Sinclair, dem "C" genannten Chef des britischen Secret Intelligence Service (SIS) informiert wurde.
- Keine andere Quelle erwähnt einen Oberst namens Teichmann.
- Mit Wiedersheim muss General Gustav von Wietersheim (*1884 1974), damals Kommandeur des XIV. Panzercorps in Polen gemeint sein.
Sinclair | |
Stevens |
Der Passport Control Officer in Den Haag war Major Richard Henry Stevens (*1893 1967), der die als Passbüro getarnte Niederlassung des SIS in den Niederlanden leitete.
2. Am folgenden Tag wurde dem Passport Control Officer von seinen Vorgesetzten mitgeteilt, dass er diesen Zwischenhändlern sagen könne, dass eine neue Situation entstehen würde, wenn ihr Staatsstreich Erfolg hätte; dass die Alliierten kein Verlangen hätten, einen rachsüchtigen Krieg zu führen; und dass die Niederwerfung des Nazi-Regimes, echte Autonomie für die Tschechen und die Wiederherstellung Polens vermutlich die minimalen Standpunkte der Regierung Seiner Majestät darstellten. |
3. Am 20. Oktober hörten wir, dass das Treffen auf den 21. Oktober verlegt worden war, weil Wiedersheim nach Berlin
einberufen worden war. Er hatte jedoch gefordert (anscheinend telefonisch) dass wir
nicht mit
Ribbentrop oder Göring verhandeln sollten, sondern nur mit ihm. 4. Am 23. Oktober wurden wir informiert, dass der General nicht persönlich zum Treffen gekommen war, sondern Oberst von Seydlitz und Oberst Teichmann geschickt hatte. Letzterer sagte, dass unsere Standpunkte als Grundlage für Verhandlungen mit Wiedersheim akzeptiert wurden, der "wahrscheinlich" am 24. Oktober herkommen würde. Nachdruck wurde gelegt auf den Wunsch, Hitler als eine Galionsfigur beizubehalten und dass wir nicht mit irgendjemand anders verhandeln sollten. Der Passport Control Officer gab dann die Mitteilung, auf die oben in (2) Bezug genommen wurde, weiter. Eine lange und ergebnislose Diskussion folgte. 5. Diese Diskussion wurde sinngemäß an die Regierung Seiner Majestät weitergegeben, die die Übermittlung einer weiteren Nachricht am 25. Oktober genehmigte. Der Text steht bei Kennzeichen A. |
Payne Best |
In der Akte finden sich keine mit Buchstaben gekennzeichneten Dokumente oder Register. Die mit Kennzeichen A referenzierte Nachricht ist dennoch identifizierbar: Es ist das undatierte Telegramm von "C" an seine Repräsentanten in Den Haag auf Seite 17 und Seite 18 der Akte. Dies ergibt sich unzweideutig aus dem Bericht Cadogans auf Seite 22, in dem er als Antwort an die Deutschen nach diesem Treffen Teile dieses Telegramms zitiert.
Venlo Incident, National Archives FO 371/23107, Seite 17 (Ausschnitt)
Chamberlain |
Am 23. Oktober vertraute Cadogan seinem Tagebuch die Vermutung an, dass es sich bei den Deutschen um "Hitlers Agenten" handle. Am 24. Oktober führte er laut seinem Tagebuch mit Außenminister Lord Halifax und Premierminister Neville Chamberlain Gespräche bezüglich einer Antwort an die Deutschen.
6. Am 27. Oktober erfuhren wir, dass General Wiedersheim endgültig am 28. Oktober mit "konkreten
Vorschlägen" herkommen würde und beabsichtigte, sich in Den Haag für 24 Stunden aufzuhalten.
Wiederum tat er das nicht; aber am 30. Oktober hörten wir, dass die deutsche "Delegation"
eine Erklärung abgegeben und "Details ihrer Seite in naher Zukunft" versprochen habe. Diese
Erklärung war wesentlich definitiver als die früheren Fühler. Es steht bei Kennzeichen B. Beim Kommentieren dieser Erklärung sagte der Passport Control Officer, dass die "deutsche Delegation" aus einem Oberst des Generalstabs (vermutlich Teichmann), "einem Offiziellen des ständigen Sekretariats des deutschen Außenministeriums" und dem "Offizier, der uns zuvor besuchte" bestand. Sie wollten nicht die Identität des Leiters ihrer Bewegung enthüllen, gaben aber zu, dass Wiedersheim und Rundstedt Mitglieder waren und fügten hinzu "und viele mehr wie sie". Weiterhin hatte der Passport Control Officer den Eindruck, dass die Deutschen "erkannt zu haben schienen, dass ihr Spiel verloren war" und versuchten, "Friedensverhandlungen mit einem minimalen Prestigeverlust aufzunehmen." Sofern die Alliierten unter diesen Umständen einen Waffenstillstand gewährten, wäre die Wehrmacht nicht in der Lage, die Feindseligkeiten wiederaufzunehmen und die Alliierten könnten dann die Bedingungen diktieren. Es war dieses Treffen, bei dem der Passport Control Officer mit der Genehmigung seines Vorgesetzten den Deutschen einen Sender und einen Chiffrierschlüssel aushändigte. |
Die unter Kennzeichen B genannte Erklärung befindet sich in der Akte auf Seite 10 und Seite 11. Der Kommentar von Stevens befindet sich in der Akte auf Seite 13 und Seite 14 ist. Weiterhin beinhaltet Seite 12 eine Vorabantwort von "C" nach Den Haag.
Venlo Incident, National Archives FO 371/23107, Seite 10 (Ausschnitt)
[1. November 1939]
Cadogan schrieb am 1. November in sein Tagebuch, dass dem Kabinett von dem "Kontakt mit den Generälen" berichtet wurde, dieses nicht begeistert war und dass Premierminister Chamberlain vor dem Kabinett Angst bekam. Cadogan musste seine Antwort an die Deutschen nochmals umformulieren.
8. Am 3. November funkten die Deutschen, nachdem sie keine Antwort erhalten hatten, an den
Passport Control Officer, dass sie "Zustimmung über die aufgestellten Punkte und die aus
London erhaltene Antwort erzielt" (siehe oben Absatz 5) hatten. Sie baten um Vorstellungen
der Regierung Seiner Majestät bezüglich akzeptabler Personen zur Führung von Verhandlungen.
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Cadogan schrieb am 3. November in sein Tagebuch, dass es wegen Winston Churchill Schwierigkeiten mit einer raschen Antwort gab.
9. Die in Betracht gezogenen Vorstellungen der Regierung Seiner Majestät, die dem Kriegskabinett
zur Genehmigung vorgelegt worden waren, wurden übereinstimmungsgemäß am 6. November nach Den Haag geschickt.
Sie sind unter Kennzeichen C zu finden. Monsieur Corbin wurde am folgenden Tag über die groben
Züge dieser Kommunikation informiert. 10. Die Nachricht scheint sich überkreuzt zu haben mit einer aus Den Haag, die am 7. November abgeschickt wurde und aussagte, dass ein "Staatsstreich definitiv versucht werde, vielleicht in einer Woche oder zehn Tagen entsprechend den Umständen." General Wiedersheim, fuhr sie fort, würde "vielleicht" unsere Vertreter am 8. November treffen, um "sich persönlich eine Meinung von unserer ehrlichen Absicht zu machen und weitere Details mitzuteilen." Die letzte Nachricht des Passport Control Officers kam am 9. November über das Telefon. Damals sagte er, dass der "große Mann" nicht in der Lage gewesen war, am Vortag zu kommen, aber jetzt am Nachmittag erwartet wurde. Um 16 Uhr am 9. November (soweit wir wissen) wurden er und sein Begleiter in Venlo aus dem Hinterhalt überfallen. Seitdem gibt es keine direkten Neuigkeiten von ihm. Die Bombenexplosion in München fand um 21:10 Uhr am 8. November statt. |
Übersicht der Standpunkte, Erklärungen und Forderungen Großbritannien 18.10.1939 Seite 25 (2)
Großbritannien 25.10.1939 Seite 17
"Generäle" 30.10.1939 Seite 10
"Generäle" 3.11.1939 Seite 28 (8)
Großbritannien 6./18.11.1939 Seite 7
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Die unter Kennzeichen C genannte Antwort vom 6. November, vielleicht das entscheidenste Dokument der gesamten Episode, befindet sich nicht in der Akte. Die Briten nahmen später an (siehe unten Absatz 11), dass Major Stevens den Inhalt dieser Antwort nicht mehr rechtzeitig vor seiner Entführung an die Deutschen weitergegeben hatte. Später jedoch wurde der Inhalt den Deutschen nicht mehr im vollem Umfang mitgeteilt, sondern am 16. November lediglich in verkürzter, ziemlich vager Form (siehe Seite 7) übermittelt.
11. Es folgte eine Pause, die bis zum 13. November dauerte. Spät am Abend dieses Tages empfing der
Operator in Den Haag eine Nachricht der Generäle, die wie folgt lautete: "Zwei unserer Agenten sind verschwunden, vermutlich verhaftet, die Arbeit wurde sehr schwierig. Wann dürfen wir die Vorschläge erwarten, die Sie uns angekündigt haben? Was gibt es Neues bei Ihnen?" Darauf antwortete Oberst Menzies (am 14. November um 10 Uhr): "Einer unserer Repräsentanten wurde heimtückisch ermordet und der andere auf der holländischen Seite der Grenze am Donnerstagabend entführt. Haben Sie irgendeine Erklärung? Was passierte mit Ihren Vertretern?" Am Abend desselben Tages antworteten die Deutschen wie folgt: "Wir müssen die Möglichkeit der Verhaftung in Betracht ziehen. Bisher wurden keine besonderen Maßnahmen beobachtet. Es scheint umso notwendiger, in Verhandlungen zu treten, für die uns immer noch die Agenda fehlt, von der es hieß, dass sie geschickt werden würde. Man hat nichts gehört bis auf die Entführung, die von da bekannt gegeben wurde. Wir erbitten weitere Instruktionen ohne Verzögerung. Es kann sein, dass wir zu einer Übereinstimmung kommen." Da es offensichtlich erschien, dass sie unsere Nachricht vom 6. November (siehe Absatz 9) nicht erhalten hatten, wurde eine verdichtete Version davon am 16. November über Funk versandt und am 17. November vertraute der Premierminister alle relevanten Fakten Monsieur Daladier an. 12. Am Abend des 17. November wurde eine letzte Nachricht von den Deutschen empfangen (siehe Kennzeichen D). Die von uns vorgeschlagene Antwort musste heute morgen dem Kabinett zu Genehmigung übergeben werden. |
Menzies |
Die verdichtete Version der Nachricht vom 16. November an die Deutschen ist auf
Seite 7
wiedergegeben. Seltsamerweise gibt es auf
Seite 19
eine noch kürzere Variante dieser Nachricht. Die Antwort unter Kennzeichen D aus Deutschland vom 17. November steht auf
Seite 8.
Aus einer undatierten späteren Nachricht an die Deutschen auf
Seite 9
geht wegen der Fragen im letzten Absatz hervor, dass am 16. November die Variante auf Seite 7 verschickt wurde.
In einem von Cadogan unterzeichneten Bericht vom 16. November auf Seite 22, Seite 23 und Seite 24 fasste er die eigenen Positionen und die der "Generäle" zusammen. Er tappte völlig im Dunkeln, ob nur die eigenen Agenten oder auch ihre deutschen Kontaktleute gekidnappt oder getötet wurden. Die gleichen Deutschen hätten sich allerdings wieder über einen anderen Kanal gemeldet.
Cadogan schrieb am 18. November in sein Tagebuch, dass er die seiner Auffassung nach relativ wertlose Antwort "der Generäle" vor dem Lunch an Premierminister Chamberlain übergab. Dieser erstellte den Entwurf für eine Antwort.
Am 22. November erfuhr Cadogan, dass die Geschichte zu Ende war: "Gegen 7 Uhr erhielt ich ein Funktelegramm aus Berlin, dass die Gestapo unsere Kommunikation mit den 'Generälen' übernommen hatte (wenn sie es nicht schon die ganze Zeit getan hatte!). So, das ist vorbei."
Vermutungen und Optionen der Briten
Am 21. November gab es eine erste deutsche Presseerklärung8 über die Verhaftung zweier britischer Agenten am 9. November, die zuvor in den Niederlanden mit vermeintlichen Hitlergegnern verhandelt und diese mit einem Geheimsender ausgestattet hatten. Dies wurde in unmittelbaren Zusammenhang mit sensationellen Neuigkeiten über den als Bürgerbräuattentäter überführten Georg Elser gebracht.
Deutsche Allgemeine Zeitung 22. November 1939
In einem am 22. November (nach der "deutschen Presseerklärung von gestern Abend") erstellten Papier auf Seite 29, Seite 30 und Seite 31 werden Optionen dargestellt, wie man auf die deutsche Unterstellung, der britische Geheimdienst sei Drahtzieher des Attentats auf Hitler gewesen, reagieren könne. Die Rolle der Gestapo sei unklar. Es sei möglich, aber unwahrscheinlich, dass die Gestapo von Anfang an hinter den "Generälen" gestanden war: "Unsere Repräsentanten vor Ort, die lange Besprechungen mit diesen Deutschen hatten, waren überzeugt, dass sie echt waren, und unsere Repräsentanten waren Männer mit großer Erfahrung und profundem Wissen über Deutschland und die Deutschen. Der Leiter des SIS dachte auch, dass sie echt sind."
Es habe sich nicht ursprünglich und insgesamt um den Teil eines von Himmler organisierten Anschlags gehandelt. "Wenn wir andererseits annehmen, das es echt war - und vielleicht ist - dann ist es klar, dass die Gestapo Wind davon gekommen hat, bevor sie den Vorfall vom 9. November plante; und es ist ebenfalls klar, dass sie seitdem in der Lage war, mit Folter alles herauszuholen, was der eine oder unsere beiden Repräsentanten wissen. Sie waren vielleicht auch in der Lage, Geständnisse der Repräsentanten der deutschen Generäle zu erlangen. Daher ist es legitim, alle Nachrichten der 'Generäle' nach dem 9. November als möglichen Schwindel zu betrachten."
Das Papier stellt dann die beiden Optionen dar:
- Entweder die deutschen Anschuldigungen zu ignorieren und abzustreiten, irgendwelche Kontakte mit deutschen Dissidenten gehabt zu haben.
- Oder eine Stellungnahme über die Angelegenheit, die schließlich nichts diskreditierendes an sich habe, abzugeben.
Gegen das Abstreiten spreche, dass man bereits die Franzosen über die Kontakte informiert habe, auch wenn man ihnen gegenüber keinen Sender erwähnt habe. Weiterhin würde wegen Indiskretionen der Ehefrauen der beiden Agenten eine große Zahl Privatpersonen von den Verhandlungen und dem Sender wissen. Ebenso habe die niederländische Regierung schon lange alles über die Aktivitäten gewusst. Weiterhin habe man der Presse verboten, den Vorfall in Venlo in irgendeiner Weise zu erwähnen.
Andererseits sei vorstellbar, dass die Gestapo auf das Eingeständnis, die Engländer seien mit den vermeintlichen Dissidenten in Kontakt gewesen, warte, um dann behaupten zu können: "Das beweist, dass Großbritannien die Bombe gelegt hat." Dies sei dann aber wenig überzeugend, da die Deutschen ja selbst nachgewiesen hatten, der Anschlag sei Monate voraus in der Schweiz geplant gewesen.
Der Autor, offensichtlich Cadogan selbst, empfiehlt letztlich als eine "Wahl zwischen zwei Übeln", eine Stellungnahme darüber abzugeben, was wirklich passiert war.
Stellungnahmen der Briten
In einer Stellungnahme auf Seite 20 und Seite 21 wird erklärt, dass man mit dem, "was eine Opposition in einem totalitären Staat zu sein schien" in Kontakt war, ohne deshalb aber auch für das Bürgerbräuattentat verantwortlich zu sein. Es sei einleuchtend, dass falls der Passport Control Officer tatsächlich irgendeine Rolle bei der versuchten Ermordung Hitlers gespielt hätte, dies nur mit Duldung der Gestapo möglich gewesen wäre. Tatsächlich gebe es aber nicht den geringsten Beweis, der Stevens mit dem Vorfall in München verbinde. Dass es auch keinen geben kann, wird dann mit einem Bericht über die Kontakte mit den vermeintlichen Hitlergegnern begründet. Das Attentat sei offensichtlich von Deutschen organisiert worden, die möglicherweise sogar der Organisation von Heinrich Himmler angehören. Die Regierung Seiner Majestät habe den Vorfall bewusst nicht bekannt gemacht, damit die Gestapo kein Kapital aus der Affäre schlagen könne.
In einer weiteren, sehr ähnlichen Stellungnahme auf Seite 32, Seite 33, Seite 34 und Seite 35 wird erklärt, dass die Dissidenten sich als Gegner des Nazi-Regimes ausgegeben hatten, aber in Wirklichkeit Mitglieder der Gestapo waren. Das "in Wirklichkeit" wurde handschriftlich mit "as they allege" ersetzt, also "wie sie behaupten". Dies zeigt die Ratlosigkeit, die zu diesem Zeitpunkt bei den Engländern herrschte. Der Kontakt sei richtig gewesen, weil der Regierung bekannt gewesen war, dass es in deutschen Militär- und Polizeikreisen eine weitverbreitete Unzufriedenheit gab. Als Grund für die bisherige Verheimlichung der Affäre wird u. A. die Vermeidung von Peinlichkeiten für die niederländische Regierung angegeben.
Am 23. November informierte Cadogan den französischen Botschafter André Charles Corbin darüber, dass es keine Verbindung zwischen dem Bombenanschlag in München und dem Venlo-Zwischenfall gebe. Seine Gesprächsnotiz steht in der Akte auf Seite 2 und Seite 3.
Am 1. Dezember informierte er den britischen Botschafter in Paris, Sir Ronald H. Campbell KCMG (Träger des Ordens "Knight Commander of St Michael and St George"), über das Gespräch mit Corbin; der Brief steht auf Seite 4, Seite 5 und Seite 6 der Akte.
Zu diesem Zeitpunkt herrschte immer noch Unsicherheit darüber, ob die deutschen Kontaktleute von vornherein Agenten gewesen waren oder als authentische Hitlergegner erst aufflogen, nachdem ihre Aktivitäten von der Gestapo entdeckt worden waren. Offensichtlich war man in England der Auffassung, dass die ausführlichen und auch weitgehend zutreffenden deutschen Presseberichte eine Fehlinformation darstellten: Die Regierung Seiner Majestät konnte oder wollte nicht glauben, dass der legendäre Secret Service, das Außenministerium und der Premierminister von Anfang an Agenten des deutschen Geheimdienstes auf den Leim gegangen waren.
Nachspiel
Nach dem Krieg verhörte der britische Geheimdienst im Sommer 1945 in der Nähe von London den inhaftierten SS-Brigadeführer und Generalmajor Walter Schellenberg9 (*1910 1952), zuletzt Chef des Sicherheitsdienst (SD) Ausland und der Militärischen Abwehr im Dritten Reich.
Schellenberg |
Nachdem die britische Regierung endlich die volle Wahrheit kannte, hatte sie anscheinend nur noch einen Wunsch: Kein Mensch sollte - solange wie auch nur irgend möglich - das hier veröffentlichte Dossier zu Gesicht bekommen.
1 | The Venlo Incident, Dossier des britischen Außenministeriums, The National Archives, Archiv-Nr. FO 371/23107. PDF-Version. Siehe auch: Peter Koblank: Der Venlo-Zwischenfall, www.venlo-zwischenfall.de. |
2 | www.opsi.gov.uk/acts/acts1989/ukpga_19890006_en_1.htm. |
3 | Bernd Martin: Friedensinitiativen und Machtpolitik im Zweiten Weltkrieg 1939-1942, Düsseldorf 1974 S. 111. |
4 | Leo Kessler: Betrayal at Venlo, London 1991, S. 87. |
5 | www.opsi.gov.uk/acts/acts2000/ukpga_20000036_en_1.htm. |
6 | David Dilks (Hrsg.): The Diaries of Sir Alexander Cadogan 1938-1945, London 1971, S. 224 ff. |
7 | Ausführliche Dokumentation unter www.georg-elser-arbeitskreis.de. |
8 | Deutsche Allgemeine Zeitung, Berliner Ausgabe, 22.11.1939 Seite 1; Berliner Morgenpost 23.11.1939 Seite 1; veröffentlicht unter www.mythoselser/texts/presse-1939-11-22.htm. |
9 | Reinhard R. Doerries (Hrsg.): Hitler's last chief of foreign intelligence: Allied interrogations of Walter Schellenberg, London 2003, S. 75 f. |
Dieser Artikel ist Teil der Online-Edition Mythos Elser.