Im Frühjahr 1932 machte ich eine Fahrt durch Deutschland. Einmal, am gleichen Tage, sah ich zwei Begräbniszüge. Es waren lange Züge, und Gesichter, aus denen nichts als Hass sprach. Die Gegner
von heute trugen ihre Parteigenossen als Opfer der letzten politischen Kämpfe zu Grabe. Über der Bahre des einen Toten lag eine Parteifahne, über der des anderen lag das Tuch der Gegenseite.
Bis auf den heutigen Tag ist der einzige Nutznießer des Meuchelmordes die Reaktion geblieben.
Im Gespräch, in Versammlungen, auf der Straße, vor den Stempelstellen und in den Arbeitslagern fand ich kämpferische Menschen aus allen Lagern. Diese Menschen waren derselben Wesensart. Es wurde der Versuch gemacht, über alle alten Gegensätze hinweg zusammenzukommen.
Man nannte uns "Die Gegner". –
Später einmal werden wir demonstrieren. Es werden dann in einem langen Zuge Menschen marschieren – und nicht irgendwelche – in braunen Hemden und in schwarzen, in grauen Jacken und mit den verschiedensten Fahnen. Sie werden gemeinsam ein Lied singen: Das Lied der deutschen Erhebung. Ihre Fahnenschäfte werden gebrochen sein. Und sie werden keine neuen Fahnen mehr mit sich tragen ...
Die Gegner gehen an die Arbeit. Alles das, was sie tun, wird mehr Nachdruck haben als das, was sie schreiben.
In dieser Schrift ist kein Wort von politischen Plänen. Pläne aussprechen heißt heute: Pläne verraten und im Keim ersticken. Nur die Ewig-Unpolitischen wollen das nicht wahrhaben:
Fast alle, die heute in der politischen Arena fechten.
An alle die wende ich mich, die wissen, dass sie zusammengehören, wenn sie sich nur einmal in die Augen gesehen haben.
Harro Schulze-Boysen
Europa 1932.
Europa war die Uhr der Welt. Sie steht.
Die Räder dieser Uhr fangen an zu rosten. Ein Fabriktor nach dem anderen schließt sich. Vor den leergähnenden Hallen, den geschlossenen Toren, den aufgespeicherten Warenmengen stauen sich die Massen. Ihnen fehlt das letzte Stück Brot. Die Stempelstelle wurde ihnen zur Heimat: zu einer sumpfigen Heimat, in der sie langsam versinken. Alle unternehmenden Kräfte scheinen geschlagen und verzweifelt aus den Außenbezirken des Imperialismus in das erschöpfte Mutterland zurückzuströmen, und die Kriege alter Art kehren sich nach innen als Bürgerkriege. Schlagwort, Demagogie und Schwäche regieren die Stunde. Die Welt ist erfüllt von Zuchtlosigkeit und Chaos.
Die kapitalistische Planlosigkeit und die hemmungslose Konkurrenzfreiheit in den europäischen Staaten haben zu einer völligen Erschütterung des europäischen Bodens geführt. Die Besitzgier der Nationalstaaten und Interessenten führte zu Kriegen. Die Sieger des letzten Krieges waren außereuropäische Mächte. Die Vereinigten Staaten wurden zur bestimmenden Weltmacht; die Sowjetunion trat praktisch aus dem Ring der europäischen Völker aus und stellte sich die Aufgabe, einen unabhängigen eurasischen Lebensraum aufzubauen. Die nächstfolgende Phase war die der Überfremdung. Die Enkel der alteuropäischen Auswanderer kamen als Spekulanten in die europäischen Länder zurück. Ihr Verfolgungsfeldzug gegen Europa ging so weit, dass sie die Entwicklung in ihrem eigenen Raum praktisch außer Acht ließen. Es entstand insbesondere in USA. ein Vakuum, in dem die Krise ihren Einzug hielt. Die Krise ist ein schleichendes und ansteckendes Gift.
Wir sind in das letzte und entscheidende Stadium eingetreten. Die dritte Phase der industriellen Entwicklung bestand in der zurückschlagenden imperialistischen Verfolgung, die die Tendenz aufwies, die alte europäische Freiheit bis in ihre letzten Winkel wirtschaftlich auszurotten. In dieser äußersten Not entstand eine unsichtbare Front gegen die Verfolger. In den Elendsquartieren wuchert die Empörung. Die proletarisierten Völker werden sich ihrer verzweifelten Lage bewusst. Aus dem Staube ersteht neue Macht. Die verlachten Bettlerhaufen werden gefährlich. Gegenüber den neuimperialistischen Raubstaaten werden sie zur überlegenen Macht, wenn sie sich mit allen ebenfalls bedrohten Kräften einigen. Gegenüber den Ausbeutermächten verbünden sich die proletarischen Völker mit den Barbaren und Kolonialvölkern, um nunmehr ihrerseits aufs Neue vorzustoßen.
Im Angesicht dieses Bildes wird das Schicksal der europäischen Völker offenbar.
Die alten Mächte haben versagt.
Die Mächte der sterbenden Zeit haben die Not nicht aufhalten können.
Die älteste Macht, die Kirche, war nicht in der Lage, den allgemeinen Verfall der Werte zu steuern. Das Vertrauen zur Geistlichkeit war geschwunden. An die Stelle der religiösen Erhebung trat die völlige Erstarrung. Das Theologengezänk der Gegenwart geht an den Wirklichkeiten der Zeit vorbei.
Irgendwelche hoffnungsvollen oder aussichtsreichen Ansätze zu kraftvoller Führung sind in den Kirchen der Gegenwart nicht zu finden. Die Gnade aus dem Glauben ist nicht mehr lebendig. Universitätsstudium und Staatsstipendien gewährleisten nur eine sinnlos oberflächliche Auslese zur Führerschicht.
Die religiösen Kräfte des Volkes haben begonnen, sich außerhalb der Kirche zusammenzufinden.
Der Katholizismus hat seinen Schwerpunkt in Rom. Es ist sicher, dass er seine Niederlage auf deutschem Boden überdauern wird. Die evangelische Kirche dagegen scheint dazu. verurteilt zu sein, als Sekte weiterzuvegetieren. Die Protestanten werden um der protestantischen Haltung willen die Kirche verlassen.
Der Katholizismus entstand, als das alte Rom sich seinen Nachfolgerstaaten gegenüber in analoger Situation befand wie das Nordeuropa unserer Zeit. Auch damals fand sich aus den überschüssigen Bevölkerungsmassen eine kämpferische Schicht in der "Unterwelt" zusammen, die aus der notgeborenen religio die Kirche und damit eine geistig universale Macht schuf.
Hellas war angesichts des vordrängenden Rom nicht in der Lage gewesen, aus den überschüssigen Volksmassen eine neue Religiosität aufzubauen und eine Katakombenbewegung zu entfesseln. Es zerfiel und wurde zur Beute. Das Volk der Griechen hatte es nicht vermocht, seine Götter zu bewegen, vom Olymp herabzusteigen und den Sklavenmassen ihre Liebe zuzuwenden. Die Götter blieben mit dem herrschenden Regime verkettet und gingen zusammen mit ihm zugrunde.
In Rom aber garantierte – trotz der biologischen Erschütterung des Volkes – die mit dem Christentum und dem Papststuhl errichtete Autorität gegenüber den übrigen Weltmächten die weitere Vorherrschaft des Imperium Romanum. Die deutschen Kaiser mussten zur Krönung nach Rom wallfahren.
Obwohl sich dann das Schwergewicht des geschichtlichen Zuges schon seit Jahrhunderten nach dem europäischen Norden verlagert hatte, kommt dieser Raum erst heute zugleich in die Zwangslage und in die Möglichkeit, eigene Religionsformen zu entwickeln. Der alte Protestantismus kann nur als Protest-Aktion gegen den fremden Katholizismus, der seine Wurzeln am Mittelmeer hat, angesehen werden. Er kann keinen neuen Mythos erwecken.
Heute erhebt sich die Frage nach dem Schicksal des europäischen Nordens. Imperialistischer Hochmut und soldatische Panzerung werden uns nicht retten können. Aber auch alle Versuche, zweitausend Jahre und mehr zurückzugreifen, die Sprüche der Propheten und die Mumien der Märtyrer wieder zum Leben zu erwecken, werden umsonst sein und sich nicht durchsetzen.
Menschen und Lebensraum haben sich völlig gewandelt und erfordern eine grundlegend neue Art der Konzentration.
Der Sozialismus der mitteleuropäischen Staaten kann zur Vorstufe einer neuen Religion werden. Aber nur wenn er sich von den Schlacken des vorigen Jahrhunderts reinigt, wird er siegen und leben.
In Russland wurde der Marxismus-Leninismus bereits zur Kirche. Ein junges Volk disputiert leidenschaftlich die Dogmen, nach denen es bei sich eine neue Ära einleitet. Dieser Weg zur Kirche aber darf nicht unser Weg werden. Der Irrtum unserer scheinsozialistischen Parteien besteht darin, dass sie sich bereits nach außen realisieren wollten, bevor sie zur Macht durchgebrochen waren. Man baute sich Führerpaläste, Parteikirchen und Bonzenaltäre und lieferte sich damit dem Zugriff der herrschenden Macht aus.
Die aufständischen Kräfte der Zukunft werden darauf verzichten, Kirchen zu errichten, bevor der Schutz des neuen Glaubens erkämpft ist. Wenn sie Kirchen errichten, werden sie ganz neuer Art sein. Für den alten Dualismus Staatsdiesseits – Kirchenjenseits ist in ihnen kein Raum mehr.
Die bodenständigen Kräfte des Feudalismus waren nicht imstande, der industriellen Umwälzung und ihren einschneidenden Folgen Einhalt zu gebieten. Die entscheidenden Veränderungen gingen auf einer Ebene vor sich, die ihrem Lebensraum fernlag. Die ehrlichen Klassenkämpfer vom Junker Marwitz bis zum deutschnationalen Januschauer konnten ihrer bodenständigen Natur gemäß nur folgerichtig im Rahmen der Reaktion handeln: Sie steuerten mutig gegen den Strom der industriellen Entwicklung. Es liegt aber eine weitspannende Tragik darin, dass aus der Verkörperung von konservativer Wesensart ein Frontabschnitt der kapitalistischen Diktatur wurde. Wenn sich der führungsbereite Feudalismus, anstatt seine Bundesgenossen dort zu suchen, wo der Protest gegen die Entwurzelung in der neuen Gesellschaft lebendig war, mit dem Generalstab der kapitalistischen Wirtschaft verbündete, der die Verbindung mit der arbeitenden Front verloren hatte, – so war das sein eigener Tod. Die Übergangszeit zwischen kapitalistischer Anarchie und neuer Planung zeichnet sich durch einen immer häufiger werdenden Wechsel der Wirtschafts- und Handelsbedingungen aus. Die verschiedenen Parteikliquen und Kabinette dekretieren ihre Kontingente, Zölle, Preise und Tarife schneller mit der Feder als der Bauer und sein Boden nachfolgen können. Der Bauer muss sein Teil dazu beitragen, die zehrende Übergangszeit zu überwinden und eine eindeutig kraftvolle Führung zu erkämpfen. Er wird sich der Tatsache bewusst werden müssen, dass ein neues Zeitalter der Maschinen angebrochen ist: Der mit Traktoren gepflügte und mit chemischen Mitteln gedüngte Boden ist nicht mehr der alte. Immer mehr sind Stadt und Land aufeinander angewiesen. Das bäuerliche Dasein wird bis in seine Grundtiefen aufgewühlt. Hier gerade aber liegt noch Kraft und Ursprünglichkeit genug, aller Schwierigkeiten der Zeit Herr zu werden.
Wer führen will, muss sich – Schulter an Schulter mit den Trägern der lebendigen Empörung und der Vorwärtsbewegung, mit dem Proletariat – an die Spitze der Industriearmeen und des historischen Zuges setzen, nicht aber mit denen paktieren, die – entwicklungsmäßig gesehen – am Ende marschieren: Die Weltgeschichte hört nicht auf das Kommando "Kehrt!"
Auch die bürgerliche Staatsführung leugnete die zersetzenden Tendenzen des kapitalistischen Denkens und der liberalen Scheinfreiheit der Einzelnen. Vor der Wirklichkeit des Klassenkampfes schloss sie die Augen und beschoss die Verkünder einer keimenden Wahrheit mit den Kanonen der wurzellosen Phrase und der polizeistaatlichen Allmacht. Der bürgerliche Rechtsstaat konnte kein echter autoritärer Staat werden, da er nicht nur die stete Enteignung der schaffenden Volksschichten zuließ und den Besitz der Produktionsmittel ausbeuterischen Mächten überantwortete, sondern auch die Aufgabe der politischen Willensbildung in Staat und Gesellschaft freien Unternehmerschaften, den Parteien und einer zum großen Teil käuflichen Presse überließ. Die innere und äußere Korruption waren die Folge.
Auch alle europäischen Parteidiktaturen brachten im Grunde kein neues Leben zum Durchbruch. Durch ihre radikale Gewaltausübung sind sie zwar im Höchstfall in der Lage, äußere Ordnung zu stiften. Niemand aber wird leugnen können, dass auch diese Herrschaftsformen gerade dem Boden entstammen, den sie so lebhaft befeinden: der Parteibuchherrschaft, der ideebezogenen Arroganz. Der in der Massenversammlung überzeugte Spießer gilt mehr als der heroische Mensch oder der Mann, der sich seine eigene Meinung bewahrte. Die schnellerworbene Gesinnung triumphiert über die Leistung, die Sturheit über das Leben, die Organisation über die Bewegung, das Geschäft über die heiligsten Güter.
Keine Opposition der Welt dachte daran, den Organismen der Völker wirklich neue Säfte zuzuführen. Tausendmal schon wurde die Revolution an Haupt und Gliedern verkündet, und nur die Kopfbedeckung und das Abzeichen wurden gewechselt.
In den mitteleuropäischen Staaten verband sich eine machtvolle proletarische Arbeiterbewegung mit der Lehre von Karl Marx. Der Marxismus wurde zu einem geistigen Faktor, der aus der Geschichte nicht mehr fortzudenken ist. Jeder Versuch, ihn zu ignorieren oder zu umgehen, ist zum Scheitern verurteilt. Es wird keine politische Betrachtungsweise mehr geben, die nicht Karl Marx einbezieht. Die marxistische Konzeption stellt die notwendige Antithese zum Hegelschen Idealismus dar. Idealismus und Materialismus gehören zusammen und werden heute auf einer höheren Ebene überwunden. Die Ausschließlichkeitsansprüche der Fanatiker beider Schattierungen scheitern an dem Wirklichkeitssinn und dem Einheitswillen der jungen Generation. Die unorganische Fragestellung um die Vorherrschaft von Körper oder Geist wurde durch die unbestrittenen Erkenntnisse der neuen Psychologie und durch das Wissen um Wert und Substanz längst überholt. Jeder Zeitkritiker wird heute zugeben, dass gerade im sowjetrussischen Eigenbereich der materialistischen Lehre ein bisher unerhörter Idealismus das Werk vorantreibt, und der überzeugteste Verfechter des Idealismus weiß, dass der Geist sein Recht verloren hat, wo der Hungertod regiert.
Die Theoretiker erklären, so primitiv hätten sie es nicht gemeint. Aber die politisierten Massen haben die Herren so verstanden. Die Fanatiker der "Wissenschaft Politik" haben die allgemeine Halbbildung und den Einfluss der Schlagworte bewirkt. Es ist unumgänglich, sich heute mit den Erzeugnissen ihrer Tätigkeit auseinanderzusetzen und ihre verderblichen Folgen aufzuzeigen. Gegenüber den absoluten Moralansprüchen der bürgerlichen Klassengesellschaft musste sich die Arbeiterbewegung den Theoretikern anschließen, die den Zusammenhang zwischen dem täglichen Brot und der menschlichen Kapazität erklärten.
Darüber hinaus arbeiten beide Seiten – die bürgerliche und häufig auch die proletarische Interessenfront – mit allen Mitteln der Massentäuschung und unter Verwertung aller menschlichen Ressentiments. Eine Macht wirklichen Gehalts hätte nicht auf der Grundlage des Streites um Sein oder Bewusstsein (der immer nur Augenblicksaufnahmen des geschichtlichen Prozesses wiedergeben kann, nie aber seinen wesentlichen Gehalt erfasst), – hätte nicht auf den verschiedenartigsten Betrugsmanövern aufzubauen brauchen. Es gab in Wahrheit aber keine solche Macht. Es gab nur unsicher gewordene Besitzende und entwurzelte Massen, die – ihrer eigenen Lehre zufolge – das Erzeugnis der Lebensordnung waren, zu der sie im Gegensatz standen und deren mahnendes Gewissen sie verkörperten.
Der Klassenkampf der bisherigen Art hat ohne Zweifel die bisherige Ordnung erschüttert und zersetzt. Dieser Prozess ist auch noch keineswegs beendet. Wir sehen seinem Ablauf ohne Schrecken entgegen. Wir bejahen ihn und das Durchgangsstadium der Revision aller Werte, das er mit sich bringt. Aber die Möglichkeit der Gestaltung liegt auf einer anderen Ebene. Sie liegt dort, wo erkannt wird, dass die Zeit der bloßen Antithese vorbei ist und die Epoche neuer Einheiten und damit auch neuer Gegensätze beginnt. Wir müssen über den allgemeinen Protest hinweg vorstoßen zu einem neuen Menschentyp, der die offene Revolution damit einleitet, dass er seine neue inseitige Wahrheit lebt und damit wirksam macht.
Es schien, als sollte die Jugendbewegung in dieser Richtung bereits einen entscheidenden Vorstoß vollbringen. Aber die Massen der Jugend desertierten, erst in die Wälder, dann in die Parteien.
So haben Kirche und Feudalismus, Bürgerstaat, Proletariat und Jugend versagt. Sie alle waren ohnmächtig in der Vereinzelung. In ihrer Durchdringung mit allen Urkräften des Volkes liegt die Zukunft beschlossen.
Das Volk steht auf.
Gemeinsames Schicksal und gleichgeartete Erfahrungen haben in Deutschland eine Generation heranwachsen lassen, in der von einer politisch wirksamen Klassenscheidung nur in einem sehr engen Maße gesprochen werden kann. In Wirklichkeit stehen heute die wirklich jungen Kräfte in allen Lagern einander tausendmal näher als den "gleichgesinnten" Parteigenossen der älteren Jahrgänge. Immer klarer erkennen Teile der Jugend auf der ganzen Linie, dass es nicht auf den Wortlaut der Ideen und Programme ankommt, sondern dass es einzig wesentlich ist, wer sich für sie einsetzt und ob jemand für sie kämpft.
Der Kampf zwischen den Generationen wird sich in der nächsten Zeit noch umso mehr verschärfen, als vorerst der Zustand besteht, dass die mitteleuropäische Bevölkerung auf einem Raum zu leben gezwungen ist, der infolge seiner Desorganisation als zu eng bezeichnet werden muss. Heute nimmt jede Generation für sich in Anspruch, ein Volk – und zwar jede das deutsche Volk – zu verkörpern. Der politische Kampf hallt zudem wider von pharisäerhaften Beteuerungen, in denen jede Gruppe für sich das Monopol vaterländischer Gesinnung in Anspruch nimmt.
Es ist an der Zeit, jenes nationale Pharisäertum zu vernichten und dem fruchtlosen Streit unserer Nationalisten und Internationalen ein Ende zu machen. Dem Begriff der "Nation" haftet zweifelsohne das gesamte liberale Gedankengut der französischen Revolution an, die das Volk nur als Summe gleichlaufender und bewusst gewordener Interessen zu begreifen vermochte. Es ist daher kein Wunder, dass die Gegenspieler dieser Welt eines bürgerlichen Klassennationalismus gezwungen waren, dem Pseudovolksbekenntnis die Maske vom Gesicht zu reißen und der Internationale des Kapitals die Internationale der vom Kapital geknechteten Teile der Gesellschaft gegenüberzustellen.
Die Reaktion findet in dem fortwährenden Herausstellen der "Vaterlandslosen Gesellen" ihren Gefallen und ihren Nutzen. Die wache Jugend steht allen lauten Sirenenklängen dieser Art mehr als misstrauisch gegenüber. Sie hat aus den Parteikämpfen der letzten Jahre viel gelernt. Sie ist es satt, die Konsequenzen einer vergangenen Epoche durchzufechten. Die Interessenpolitik ist am Ende; die politisierten Massen fallen und stürzen, und es bleiben nur die auf dem Kampfplatze, die ihre Wehrhaftigkeit, ihre Kraft und ihren Machtwillen aus einer tieferen Bindung herleiten.
Dem mechanischen Staatsdenken und dem Begriff der Nation stellen wir den Gedanken der Volks-Gemeinschaft gegenüber. Im Schoße der von Klassenkämpfen erschütterten alten Gesellschaft der Nationalstaaten wird ein neues Prinzip geboren. Das Volk wird als neues Ziel und neue Wesenheit erlebt und der Sinn des Staates im Dienst an der steten Verjüngung des Ganzen erschaut. Der unvollendete Volksstaat von Weimar musste daran scheitern, dass er zwischen Volk und Schein-Führung nur eine tiefe Kluft unüberbrückt ließ. Diese Kluft entfremdete beide Teile voneinander. Die Entwicklung vom Stimmbezirk und der Parteiorganisation zum lebendigen Bund gestaltender politischer Kräfte wird die permanente Krise überwinden. Der notwendige Aufbau der untersten Zellen eines neuen Staates und die Zusammenführung heute noch namenloser Kräfte stellt die Aufgabe der nächsten Jahre dar. ln Stadt und Land werden sich die alten Gegner zusammenschließen. Über die Köpfe ihrer Scheinführer hinweg werden sich in Kürze schon die Aktivisten aller Gruppen in örtlichen Ausschüssen und Bünden sammeln, um den wahren Volkswillen neu zum Ausdruck zu bringen.
Der Aufbau der Volkskraft.
Die neue Einheit, die das Gebot der Zeit ist, muss sich auf allen Gebieten des Lebens bilden. In der Übergangszeit, die zwischen dem bürgerlichen Rechtsstaat und der neuen Gemeinschaftsbildung liegt, werden auch die Formen der Ehe und die Familie in die allgemeine Krise und den Verfall alter Werte hineingezogen.
Die zunehmende Unsicherheit aller menschlichen Bindungen hängt aufs engste mit der Wirtschaftsverwirrung, der Erwerbslosigkeit und der Frauenarbeit zusammen. Die Veränderung der Erde erfordert auch hier für die Zukunft neue Formen und Gesetze.
Die Gegner der alten Ordnung werden von den Hütern der Moral nicht mehr getroffen. Inmitten der jungen Generation wächst eine neue Verantwortung heran, die mit dem doppelten Gesicht vieler bürgerlicher Ehegefängnisse nichts mehr gemein hat. Wir sind geneigt, alle Irrtümer auf diesem Gebiet eher zu verstehen und bejahend zu werten als das willenlose Übernehmen der alten Unwahrheiten, die im Widerspruch zur täglich erlebten Wirklichkeit stehen.
Die Geschichte pulsiert zwischen aufbauender und verbrauchender Bewegung. Die Frau gebiert. Der Sinn des männlichen Lebens ist es, natürliche Kräfte in neue Werte umzusetzen. Der mütterliche Raum trägt Energien aus. Der männliche Staat verbraucht sie.
Das Lebenssymbol der Mütter ist die Ackerfurche. Der männliche Kräfteverbrauch manifestiert sich in der industriellen Ausbeutung, im Raubbau und im Krieg. Der letzte Weltbrand hat den vorhandenen Vorrat an Energien erschöpft. Der patriarchalische Imperialismus ist am Ende.
Ein neuer Aufbau wird notwendig; er wird begonnen mit der Revolution. Die Revolution als Geburtsvorgang bedingt die mütterliche Geschichtssphäre. Diese Erkenntnis schaltet den Mann als politischen Faktor keineswegs aus. Sie verändert aber die Beziehungen zwischen Mann und Frau. Die mütterlichtragende Geschichtsepoche der echten Revolution verdrängt die Kokotte, die heute die unumschränkte Herrscherin in den Palästen einer dekadenten Spätbourgeoisie*) ist.
Der in der nach außen gerichteten Verbrauchszone der Geschichte tätige Mann brauchte als Ausgleich für den Lärm, den er in der Welt erzeugte, das "traute Heim", die statische Ehefrau und als sexuelles Element die bezahlte Geliebte.
Der Mann der mütterlichen Geschichtszone arbeitet unterirdisch. Er speichert auf. Sein Lebenselement ist nicht das zusammengeraffte Kapital, sondern die Arbeitskraft, die aus der Tiefe des Lebens kommt. Diesem Mann ist die statische Unbewegtheit der bürgerlichen Ehefrauen ebenso ein Greuel wie die Unfruchtbarkeit ihrer ausgehaltenen Rivalinnen. Dieser Mann erzeugt die dynamische Sittlichkeit und einen lebendigeren Frauentyp.
Dem äußeren Machtwillen des herrschenden Regimes stellt die Revolution den Bund gegenüber. In ihm ist die Armut und die bewusste Disziplinierung der Kräfte am Werk.
Wir vertreten nicht die Ansicht, dass eine kunstlose Sachlichkeit das Merkmal neuen Zusammenlebens sei. In den Beziehungen zwischen den Geschlechtern gibt es nur ein Gesetz und Verpflichtungen nur aus einem Urgrund: dem blutmäßigen Rhythmus und der Liebe.
Der bürgerlich-gesetzliche Rahmen der Liebesbeziehungen, so wie ihn das 19. Jahrhundert schuf, ist ein Produkt der Angst der von der kapitalistisch-patriarchalischen Gesellschaft bedrohten Mutter. Das 20. Jahrhundert sprengt die alten Formen. Aber noch liegt jede neue Bindung und Gestaltung im Dunkeln. Die große Kräftesammlung geht zunächst den Weg durch die innere Bewegung.
Die meisten Menschen unserer Zeit haben es verlernt, an sich zu halten und still das Fundament zu legen. Die kapitalistische Zeit setzt alle Werte hastig in Kleingeld um. Es wird zu viel im kleinlichen Sinne organisiert und zu viel nach außen statt nach innen gearbeitet.
In der kommunistischen Presse wurde in letzter Zeit mehrfach erklärt, sie bleibe getrost so lange gottlos, bis ihr das Dasein Gottes in einem sowjetrussischen Laboratorium bestätigt würde. Das ist nur ein Beispiel für viele. Die Völker kommen so lange keinen Schritt voran, wie die Menschen nicht begreifen, dass jeder einzelne sein eigenes "Laboratorium" und ein entscheidendes "Produktionsverhältnis" in sich hat. Die Flucht in die Pseudowissenschaftlichkeit und ins metaphysische Jenseits kennzeichnen nur die totale Schwäche des zum Aussterben verurteilten Menschentyps. Unsere Zeit fordert also Menschen, die leben können, ohne sofort den Erfolg ihres Tuns zu sehen. Menschen, die sich einbauen lassen in das Fundament. Menschen, die darauf verzichten, in goldenen Kuppeln zu glänzen. Die das nicht können, repräsentieren das Ende des alten Rentnertraumes, – nicht den Beginn der neuen Zeit.
Wir wollen keinen Verzicht auf Leben, Wachstum und Lust. Hier ist eine "Gegen-Lust" des Von-Innen-heraus-Sprengens am Werke.
Die Revolution.
Wer sind die Revolutionäre? Was ist eine Revolution?
Eine Revolution ist die Neugeburt lebendiger Kräfte eines Volkes. Alte Völker verlieren die Gebärfähigkeit.
Das Wesen einer Revolution besteht nicht im Blutvergießen, sondern in der Aufspaltung der bisherigen Einheiten.
Das revolutionäre Stadium gleicht dem Leben der Ungeborenen. Der Revolutionär ist ein ungeborenes Kind im Schoße der bisherigen Gesellschaft. Er ist in seiner äußeren Bewegungsfreiheit gehemmt und gezwungen, sich von fremder Substanz zu ernähren. Das Reich des revolutionären Menschen ist nicht von dieser Welt: Es ist die inseitig erlebte Wirklichkeit von morgen.
Revolutionär sein ist Schicksal als Aufgabe. Warum schüttelt Ihr entrüstet die Köpfe über dieses Wort Schicksal ... ?
Es ist Euch nicht rational fassbar genug. Es ist Euch zu unheimlich. Es ist Euch nicht hell genug.
Aber Ihr werdet Euch daran gewöhnen müssen, dass es lebendige Dinge gibt, die Ihr nicht seht: Die Ungeborenen leben auch im Dunkeln.
Die Patentlösung der letzten Geheimnisse des Menschen tritt erst ein mit der totalen Vergesellschaftung des Privatlebens, mit der öffentlichen Überwachung der Liebe und der Kategorisierung der letzten freien Kräfte des Menschen. Erst in der Stunde der Entstehung des künstlichen Menschen triumphiert die reine Vernunft über das junge Leben. Erst dann lasst uns nicht mehr von Schicksal reden.
Im Grunde haben viele Marxisten, die dem Glauben an die übergeordnete Wesenheit der Produktionsverhältnisse huldigen, dieselbe sterile Enge des Blicks wie die Nationalsozialisten, die durch Rassezüchtung ihren eigenen Mangel an Rasse verdecken wollen.
Die Front der Zeugungsunfähigen geht durch alle Lager hindurch. Nun werden sie es mit dem künstlichen Menschen versuchen.
Die Lebensfeindlichen, die Konterrevolutionäre stehen überall. Quer durch alle in Meinungen und Ideen gespaltenen Lager geht auch die Front der Revolution!
Wir sagen: Revolutionär sein ist Schicksal. Selbstentwicklung richtet. Die keine innere Richtung haben, sagen: Hier führt kein Weg.
Die an einem Mangel innerer Mannigfaltigkeit leiden, spüren die Bewegung nicht.
Die des Schicksals nicht teilhaftig sind, schütteln die Köpfe.
Weil sie im Dunkeln nicht schauen können, sagen sie, es sei nichts da. Weil sie keine Antenne haben, sagen sie, sie hörten nichts. Sie alle haben in ihrer Welt Recht. Wir in der unseren.
Diskutiert nicht mit ihnen. Lasst sie.
Der Sozialismus.
Die Erkämpfung des Sozialismus stellt noch keine Revolution dar. Sie ist erst ein Anfang.
Dem Sozialismus und der wirtschaftlichen Neuordnung geht es zunächst um die Garantie der Existenz.
Diese Garantie muss notwendigerweise erkämpft werden gegen diejenigen, die sie – bewusst oder unbewusst – verweigern.
Den Revolutionären aber geht es um noch mehr: Es geht ihnen um die Existenzdurchdringung, – um das Leben.
Überall ist vom Sozialismus die Rede. Unter diesem Wort versteht die junge Generation – soweit sie nicht nach neuen Worten sucht – im Allgemeinen etwas anderes als die alten Parteien. Ihr ist er kein nebelhafter, liberaler Begriff mehr. Sozialismus bedeutet für sie: Militante Wirtschaft! Tabula rasa! In der Architektur fielen der Stuck und die Schnörkel. Zuerst war alles eckig, hart und kalt. Dann aber bildeten sich neue Bauformen heraus, die der Stolz der heranwachsenden Zeit sind.
Der Weg zur Neugestaltung führt überall durch die Reinigung hindurch. Ohne die kalten, klaren und einfachen Häuser geht es nicht. Wer den Mut und das Ja zu ihnen und ihrer Zeit nicht aufbringt, ist der Reaktion zugehörig.
Dieses Bild gilt in vollem Maße für den Sozialismus. Wer den reinen Tisch und die totale Mobilmachung fürchtet, ist kein Sozialist.
Wer vor Gulaschkanonen und Brotkarten bangt, stützt die Herrschaft der Kapitalisten. Wer eine neue Epoche der Menschheit einleiten will, darf die Härten des Übergangs nicht fürchten.
Die sozialistische Revolutionsregierung muss von jedem Volksgenossen den vollen Einsatz aller Kräfte fordern. Neunzehnhundertvierzehn kehrt wieder: im imperialistischen Krieg oder in der sozialistischen Revolution. Die Völker haben die Wahl.
Das Ziel der Wirtschaft ist weder die Sicherstellung der irdischen Gerechtigkeit noch die Ausbeutung. Die Parole der Stunde heißt: Brot, Kleidung, Unterkunft für alle.
Sozialismus heißt nicht: Verantwortungslosigkeit, Führerlosigkeit, Verzicht auf Unternehmungsgeist. Sondern: Generalstab, Produktionsarmeen, Pläne, Gemeinschaftsarbeit. Restloser Einsatz und Verantwortung bis zum äußersten, – das ist Sozialismus.
Die sozialistische Aktion hat nicht das Ziel, Verantwortung und Unternehmungsgeist dort auszurotten, wo sie noch sind. Die Vorbedingung des Sozialismus ist die Vernichtung jeder papiernen Bürokratie, der Tod aller Vermassung und der entscheidende Kampf gegen die Undurchsichtigkeit der Wirtschaft: der Sieg des politischen Menschen über die Börse. Der Sieg harter menschlicher Energie über die Machenschaften unserer Jobber und Spekulanten!
An einer vorübergehenden Besserung der Verhältnisse ist niemandem gelegen. Wir wollen auch keine neue Konjunktur. Wir wollen Strukturwandlung auf lange Sicht.
Im Vordergrund der Notwendigkeiten des Tages steht die Arbeitsbeschaffung.
Man sagt, es sei keine Arbeit da. Das ist eine Lüge. Es ist Arbeit da. Es sind Arbeiter da. Der Bedarf ist vorhanden. Die Produktionsmittel stehn bereit. Ein großer Teil der Rohstoffe ruht im eigenen Lande, der Rest in Ländern, die Bedarf an unseren Produkten haben. Es ist tatsächlich alles da. Alle, die nicht blind im Gestern stehen, wie die größten Teile der heute noch regierenden Oberschicht, erkennen die Zeichen der Zeit.
Es ist alles da. Es fehlt nur die Macht, die den Besitzern die noch lagernden Warenmengen um des neuen Anfangs willen entreißt, sie an die hungernde Bevölkerung verteilt und dann alle Arme in Bewegung setzt. Es fehlt nur die Macht, die den bankrotten Großgrundbesitz an Hunderttausende siedlungshungriger und genossenschaftswilliger Menschen verteilt. Es fehlt die Macht, die an die Stelle der viel zu vielen kleinen Kaufleute und Händler die großen Organisatoren der Wirtschaft setzt. Es fehlt die Macht, die aus dem alten Wirtschaftsdenken herauskommt und – wenn sie kein Geld aufbringen kann – mit Bezugsscheinen arbeitet. Es fehlt die Staatsmacht, die in Gottes Namen den Zylinderhut zu Hause lässt und im grauen Kittel vorangeht. Soldaten, Pioniere, Arbeiter, Genossen, Brüder!
Immer wieder vergessen die Anhänger der alten Wirtschaftsordnung bei ihrer Argumentation, dass der Wille zum Profit, der ihnen als das einzig vernünftige Ziel allen Wirtschaftens erscheint, gar nicht mehr lebendig ist. Der Großbesitz wird immer mehr als hemmend und lebensfeindlich empfunden. Es ist dabei völlig belanglos, ob diese Einstellung das Ergebnis der wirtschaftlichen Not ist oder sie umgekehrt erst bedingt. Entscheidend ist nicht, warum die Bewusstseinsänderung Platz gegriffen hat, sondern dass sie vor sich gegangen ist und im Maße ihres Voranschreitens Kräfte des Lebens freigemacht hat, die der Kapitalismus verschüttet hatte.
Es ist bezeichnend, wie sich die kapitalistischen Regierungen gegenüber der sozialistischen Jugend verhalten. Hier nämlich werden die Fronten klar. Hier, in der Wirklichkeit, ist es nichts mehr mit dem gepriesenen "freien Willen", den "Kräften des Unternehmertums", der "Verantwortlichkeit" und dem "Spiel der Kräfte". Wo auch immer die Jugend aus ihrer neuen Wirtschaftsgesinnung heraus etwas schafft, wirkt der kapitalistische Faktor lähmend, bürokratisierend und verantwortungsraubend. Hier entlarvt er seine eigenen Phrasen.
Gegenüber den Sabotageversuchen der verkalkten Bürokratien fast aller Parteien hat sich der freiwillige Arbeitsdienst bisher erfolgreich durchgesetzt. In diesen Bataillonen der Arbeit stehen heute die ersten erfolgreichen Kräfte der neuen Front. Es ist überaus bezeichnend, dass die Kapitalisten in ihnen eine revolutionäre Gefahr sehen und die Kommunisten sie bis jetzt noch als die vollendete Reaktion betrachten.
Angesichts der ersten wirklich revolutionären Bewegung in Deutschland, die außerhalb der Parteien vorgeht, versagen die alten Maßstäbe und Entwicklungstheorien auf der ganzen Linie. Es ist heute notwendig, die Jugend zum Arbeitseinsatz aufzufordern, um ihr Werk gegen alle fremden Einflüsse, die von wesensfremden Mächten dröhn, zu verteidigen.
Die Arbeitsdienstabteilungen werden die Stoßbrigaden für die neue Einheit sein. In ihnen lebt der Geist der Gemeinschaft und des Aufbaus. Niemals kann der Arbeitsdienst den Sozialismus ersetzen. Trotzdem aber ist es falsch, den Frontabschnitt Arbeitsdienst, den insbesondere die bündische Jugend bezogen hat, als Zeichen des politischen Rückzuges hinzustellen. Er vermittelt vielmehr neue körperliche und seelische Kräfte und ein Erleben, das dem des proletarischen Klassenkampfes an Eindringlichkeit keineswegs nachsteht.
Gewiss steht der Arbeitsdienst der gelernten Arbeit qualitativ nach. Gewiss bedeutet er einen Rückschritt der Produktionsbedingungen. Niemand hat das je bestritten. Aber der vergreiste Kapitalismus führt alle Menschen, die in seinem Bereich leben, in Kampfzonen, die weit hinter der einstigen Front liegen. Alles das sagt also nichts gegen die Kräfte, die sich hier im Arbeitsdienst erheben. In ihm findet die neue Ordnung ihre besten Diener.
Die Sozialisierung der Konsumtion ist zwangsläufig immer reaktionär. Nur die Sozialisierung einer neuen Form von Produktion ist positiv zu werten. Im Vergleich mit der Sowjetunion ist die mitteleuropäische Lage deswegen so unendlich viel schwieriger, weil hier ein scheinbar idealer und zureichender Produktionsapparat besteht. Es ist hier also viel schwerer, zur ursprünglichen Akkumulation eines neuen Produktionsapparates durchzubrechen, als für die russischen Völker, die um 1900 von ihrer damaligen Form aus zu dem Modell des westlichen Industrialismus emporschauten.
Wir gehen in absolutes Neuland. Die Moskauer Generallinie des Industrialismus kann daher für uns nicht wirksam sein. Wenn die kommunistischen Parteien sich der Moskauer Führung unterordnen, stellen sie sich damit außerhalb der Problematik ihres eigenen Landes und verhindern die Revolution im eigenen Land, ohne es zu wollen.
Mitteleuropa und Eurasien werden in den kommenden Jahrzehnten aufs engste miteinander verbunden sein. Die Verteidigung der russischen Revolution findet die Unterstützung aller revolutionären Minderheiten. Dessen ungeachtet aber ist es vollkommen falsch anzunehmen, die Revolutionszentrale in Moskau könne zurzeit andere als Moskauer Lebensnotwendigkeiten wahrnehmen. Das russische Proletariat hat das Bewusstsein, durch einen eventuellen Krieg eine Welt zu verlieren und nichts als neue Ketten zu gewinnen. Jede außer-russische Revolution steigert die Gefahr des Interventionskrieges und liegt daher keineswegs im Interesse der heutigen Sowjetmacht. Man kann ihr eine Scheu vor neuen Komplikationen nicht verdenken. Besitz macht schwerfällig. Der Fünfjahresplan ist Besitz.
Die deutsche revolutionäre Bewegung aber muss, um zu leben und zu siegen, jede Komplikation wollen. Sie hat noch keine Ursache, feige zu sein.
Sie hat noch keine Existenz zu verteidigen. Und die bevorstehende Erreichung ihrer ersten politischen Ziele ist erst ein Anfang, der keine neue Verkrustung und Verhärtung mit sich bringen darf und wird. In der lebendigen Bewegung unseres Landes liegt das Geschick Europas beschlossen.
Die Weltgeltung.
Unsere Väter haben dem großen Staatsmann Bismarck monumentale Denkmäler gesetzt. Das Reich ist von dem Kanzler Wilhelms l. geschaffen worden, aber Deutschland ist nicht fertig gewachsen.
Dieses Reich war ohne Liebe. Es war groß, gewaltig und eisern wie sein erster Kanzler. Aus dem Eisen wuchs die Schwerindustrie.
Nur seinen Nachbarn gegenüber ist Deutschland eine Einheit, nicht aus sich selbst.
Die deutsche Wandlung hat ihre Kraftquellen im Norden und im Osten des Reiches. Der Westen und der Süden verkörpern den ehemals vom römischen Weltreich überfremdeten Kulturraum. Dieser Raum hat seinen Lebenshöhepunkt überschritten. Eine Bewegung, die nur auf ihm aufbaut, läuft Gefahr, sich allenfalls in den kühnen Träumen einer Renaissance, die nun schon die dritte des alten Rom und des Mittelmeers wäre und sich heute im Faschismus verwirklicht, zu wiegen, – an der neuen Wirklichkeit aber vorbeizugehen.
Es ist Hitlers entscheidende Schwäche, dass er diese Konstellation nicht sieht. Das Schwergewicht seiner Bewegung hat sich, da sie auf deutschem Boden kämpft, nach dem Norden und Osten des Landes in den revolutionsfähigen Raum verlagert. Gefolgschaft und Führer werden zusehends gegeneinander in Kampfstellung kommen: Sie stehen auf zwei verschiedenen Böden. Wie zur Zeit der ersten deutschen Revolution, die man die Reformation nennt, ist Deutschland gespalten wie im Gegensatz Wittenberg – Rom. Es wird die höchste Aufgabe einer künftigen verantwortlichen Volksregierung sein, einen zweiten Dreißigjährigen Krieg zu verhindern. Das kann nur dann gelingen, wenn sich die Spannung in Deutschland binnen kurzer Frist eindeutig zugunsten der vitaleren Kräfte löst.
Alle Scheu ist von Übel.
Unsere Reaktionäre erregen sich über die Heil-Moskau-Rufe der Kommunisten. Aber die Gefahr, die den erwachenden Völkern vom Kreml droht, ist nicht halb so groß wie die, dass sich die Menschen in der alten Trägheit untätig weiter für Jahrzehnte bekreuzigen. Wenn Ihr heute zu barmherzig seid und Euch Zeit lasst, werdet Ihr morgen die Interventionsarmeen im Lande haben.
Die Söldner der feindlichen Mächte erscheinen dann immer als Bundesgenossen der Reaktion, wenn sich nicht im Augenblick der Revolution bereits eindeutig ein neues Kräftezentrum über dem Land erhebt.
Der Ablauf der deutschen Entwicklung muss nach außen geschützt werden. Dieser Schutz kann nicht in einer gerüsteten und starken Wehrmacht bestehen. Innen- und außenpolitische Faktoren behindern eine solche Möglichkeit, die die Kaderbildung überschritte.
Die Revolution kann sich gegen die im geschichtlichen Zuge als Folge des Anschlusses und des Durchbruchs neuer Wirtschaftsgesetze zu erwartende Intervention nicht anders schützen als durch den intensiven Appell an die latent vorhandenen sozial unterdrückten Massen und nationalen Minderheiten in den Nachbarstaaten.
Dieser Appell kann nur von einer Macht ausgehen, die die lebendigen Kräfte, die sie im internationalen Maßstabe weckt, nicht im eigenen Land zu fürchten hat.
Die letzte Zeit hat erwiesen, dass eine betont konterrevolutionäre Reichsregierung auf dieses wichtigste außenpolitische Kampfmittel ständig zu verzichten gezwungen ist. Ihre Machtbestrebungen werden keine wesentlichen Erfolge zeitigen. Die gegenwärtigen Niederlagen kommen nur unseren reaktionären Träumern überraschend.
Eine Staatsmacht, die weder imstande noch willens ist, imperial vorzustoßen, und die andererseits nicht die außenpolitischen Konsequenzen eines echten revolutionären Mythos zu ziehen vermag, wie es die Sowjetunion nach 1917 tat, ist praktisch zur Ohnmacht verurteilt.
Auch in diesem Punkt wird Hitlers Fehler, ständig an die Herrenvölker zu appellieren, offenbar. Wären die Nationalsozialisten nicht nur eine pseudosozialistische und – in letzter Zeit – eine ressentimentsozialistische Partei, so würden sie nicht nur immer ihre Gegnerschaft oder Gleichgültigkeit gegenüber den nationalen Minderheiten oder proletarischen Massen der anderen Staaten betonen. Anstatt die geschichtliche Linie von den Christenhunden und Sklaven bis zu den verachteten deutschen Bauern, den Sansculottes, Geusen und "nihilistischen Verbrechern" zu sehen, glauben sie, ihre Gegner damit abzutun, dass sie sie als "Untermenschen" verfemen. Ein katastrophaler Irrtum! Es ist nicht angängig, die eigene, nach den Regeln der Agitation zusammengeströmte Anhängerschar als Herrenmenschen, Elite und Führerschicht zu bezeichnen und dann eine aristokratische Haltung zu befehlen. Auch die oppositionellen Nationalsozialisten und die Faschisten der nordeuropäischen Staaten verfallen diesem Irrtum.
In Wahrheit ist die Armut und das Paria-Dasein der Deutschen ihre einzige Macht. Ein Volk, das "nichts mehr zu verlieren hat als seine Ketten", ist außenpolitisch viel mächtiger und auch gefährlicher als eine bezahlte Millionenarmee, deren Soldateska keinen größeren Wunsch haben kann, als schnell an den heimischen Herd zurückzukehren.
Es ist der einzige Vorteil der Völker, die den letzten Krieg verloren haben, dass sie für die Neuordnung und Gestaltung der kommenden Zeit praktisch zunächst allein in Betracht kommen. Sie allein haben ihre alte Ordnung und ihren alten Halt verloren, sie sind gezwungen, sich zu bewegen und als Vollstrecker in den Dienst geschichtlicher Notwendigkeiten zu stellen.
Die Macht von morgen.
Unentwegt rufen die Zeitgenossen nach dem Programm. Es gibt kaum einen, der nicht betrogen werden will. Die Menschen fliegen in die programmatische Seligkeit wie die Motten ans Licht.
Die einzigen, die um die Unwichtigkeit der Programme zu wissen scheinen, sind die Politiker, die hinter den Kulissen handeln – und die Landsknechte und Prätorianer, die sich aus Freude am Kampf immer wieder einsetzen lassen und jedes Mal missbraucht werden. Dem Gerede ihrer "Führer" sehen sie kalt bis auf den Grund, und die ganze Politik ist ihnen kein Ernst.
Die anderen glauben an die Einheit aus dem Ziel. Auf der ganzen Linie wird von dem Willen des Volkes gesprochen, bevor das Volk zum Leben erwacht ist. Überall wird der Gemeinschaftswille manifestiert, bevor die Gemeinschaft geboren ist. Es gibt bisher keine Bewegung, in der sich nicht – von fataler Anmaßung getrieben – die Theoretiker bemüßigt fühlten, den Willen der Bewegung, die erst entfesselt werden sollte, schon vorwegzunehmen, um so von Anbeginn den neuen Wagen auf alte rostige Geleise zu schieben. Solange nicht ein allgemeiner Protest gegen diesen steten Betrug erwacht, kann von dem Anbruch eines neuen Zeitalters keine Rede sein.
Es geht uns nicht darum, die Grenzen zwischen Freund und Feind zu verwischen. Die Menschen der alten Welt halten uns entgegen, wenn unsere Front sich – statt nach dem Ziel – nach der inneren Einheit aus dem Keim des Menschlichen ausrichte, so manifestiere sie die vollkommene Unklarheit und Vernebelung oder auch "kleinbürgerliche Rudimente". Wir halten ihnen entgegen, dass uns die bisherige Kampfstellung zwischen Menschen, die zufällig verschiedener Ansicht sind, zu hohl und zu fad erscheint. Unser Freund ist nicht, wer uns zustimmt, sondern wer mit uns wächst.
Wir sollten den Mut haben, ganz offen zu bekennen, dass uns die Frontstellungen "Rechts gegen Links", "National gegen International", "Bourgeoisie gegen Prolet" zu farblos und unwesentlich sind. Warum? Das Zeitalter der organisatorischen Routine und der mechanischen Zielgläubigkeit offenbart sich in der zerrissenen Einförmigkeit. Es offenbart sich in einer Klassenordnung, die ihre Wurzeln nicht im inneren Rang, sondern nur all zu oft in der zufällig geglückten Spekulation hat.
Das lebendig Einheitliche dagegen offenbart sich in der Mannigfaltigkeit.
Alle Parteiungen, die nur die Menschen sammeln, die an etwas Gleiches glauben, bleiben arm. Die große Entscheidung fällt zwischen denen, die glauben, und denen, die zu jeder Gläubigkeit unfähig sind.
Das Merkmal des gläubigen Menschen ist der furchtlose Einsatz. Sein Wesenszeichen ist die genetische Bewegtheit, die Rückkehr zu den Müttern, das schöpferische Vertrauen zu den tragenden Mächten: ist die Fähigkeit zur Vision. Dem gläubigen Menschen kann nichts mehr geschehen. Er ist geborgen im Leben wie im Tod. Die Armee der Revolution kann sich nur aus gläubigen Menschen bilden. Sie setzen alles ein und gewinnen.
*) Die Schicht, von der hier die Rede ist, hat im Übrigen mit den Resten des alten Bürgertums wenig gemein. Sie hält aber die ökonomischen Großpositionen besetzt.
Erschienen in: Die Schriften der Gegner, Waldemar Hoffmann Verlag, Berlin 1932