Rachemorde nach Elser-Attentat
Helmut Ortner über bisher unbeachtete Vergeltungsaktionen am 9.11.1939Georg Elsers gescheitertes Attentat auf Adolf Hitler im November 1939 hat wesentlich mehr Opfer gekostet, als bisher allgemein bekannt war. Zur Abschreckung und als Vergeltung für die beim Attentat umgekommenen und verletzten Hitler-Anhänger wurden von den Nationalsozialisten zahlreiche Menschen umgebracht.
VON PETER KOBLANK (2011)
Dieser bisher in der Elser-Forschung noch nicht berücksichtigte, aber gerichtlich zweifelsfrei festgestellte Sachverhalt ist nachzulesen in einer bereits im Jahr 2000 von Helmut Ortner herausgegebenen Reportagensammlung mit dem Titel "Hitlers Schatten".1
Ortner ist Autor zahlreicher historischer Werke. Er hat u.a. eine Biografie über den Volksgerichtshofpräsidenten Roland Freisler2 geschrieben. Seine erzählenden Sachbücher über die amerikanischen Anarchisten Sacco und Vanzetti3 und über Georg Elser4 sind in zahlreichen Ländern und Sprachen erschienen. In Ortners Sammelband "Hitlers Schatten" berichten verschiedene Autoren über Menschen, die beispielsweise als KZ-Arzt oder Aufseher in NS-Vernichtungslagern schwere Schuld auf sich geladen haben und später ein mehr oder weniger normales und unbelastetes Leben führen konnten.
Arnold Strippel |
Diese waren am 9. November [1939] als Racheakt für den Bombenanschlag auf Hitler im Münchener
Bürgerbräukeller ermordet worden. Der Anschlag, von dem Schreinergesellen Georg Elser geplant und
durchgeführt, war gescheitert. Zur Abschreckung und als Rache für die acht Hitler-Anhänger, die
bei dem Attentat ums Leben kamen, wurden von den Nazis zahllose Rachemorde begangen. Auch in Buchenwald. Auf den Befehl "Marsch" - so die Anklage - seinen die "Häftlinge strahlenförmig auseinander gelaufen". Jeder SS-Mann habe dann den ihm zugeteilten Häftling erschossen. Strippel bestreitet seine Beteiligung: Er habe an diesen Erschießungen nicht mitgewirkt, weil ihn diese Angelegenheit "seelisch zu sehr mitgenommen" habe, sagt er vor Gericht. Ganz anders hat der ehemalige Häftling Walter Potter Strippels Rolle an der Mordaktion in Erinnerung: "Kurz nach 10 Uhr rief mich Hauptscharführer Strippel telefonisch an. Seine Stimme klang rau und betrunken: 'Na, weißt du, wo die 21 Mistvögel sind?' Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte. Zwar bestand für mich über das Schicksal der Juden kein Zweifel, auch wusste ich, dass man dem Hauptscharführer gegenüber nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen brauchte, aber der Ton seiner Stimme war derart grauenhaft, dass ich mich schnell entschloss, mich unwissend zu stellen. Und dann diktierte mir Strippel telefonisch 21 Häftlingsnummern und 21 Namen. Ich ging an die Kartei und zog 21 Karten, schrieb 21 Totenmeldungen und 21 mal schrieb ich die Todesursache: 'Auf der Flucht erschossen.' Am nächsten Tag sah ich die Leichen in der Totenbaracke...", schreibt er in seinem Erinnerungsbuch "Arztschreiber in Buchenwald". Doch Strippel bestreitet jegliche Mitwirkung an der Erschießungsaktion. Es hilft ihm nichts. Am 1. Juni 1949 fällt das Gericht sein Urteil: Strippel wird "wegen gemeinschaftlichen Mordes in 21 Fällen" zu 21 mal lebenslang verurteilt. Obendrein erhält er noch zehn Jahre Haft wegen schwerer Körperverletzung "in einer unbestimmten Zahl von Fällen". |
Strippel wurde 1911 geboren und war zum Tatzeitpunkt 28 Jahre alt und SS-Stabsscharführer, also im Rang eines Oberfeldwebels. Hier die Namen der anlässlich des Bürgerbräuattentats in Buchenwald erschossenen 21 Menschen:7
Abusch, Walter, 17 Jahre Adam, Herbert, 36 Jahre Adler, Manfred, 18 Jahre Cohn, Wilhelm, 24 Jahre Deutsch, Herbert, 25 Jahre Frischmann, Otto, 28 Jahre Godel, Joseph, 32 Jahre Groß, Arthur, 26 Jahre Jablonski, Leo, 38 Jahre Jacob, Erich, 28 Jahre Kende, Stephan, 51 Jahre Kriesshaber, Theodor, 55 Jahre Levite, Julius, 28 Jahre Levy, Emil, 31 Jahre Maschke, Arthur, 33 Jahre Meyer, Ernst, 35 Jahre Rautenberg, Hermann, 27 Jahre Schafranek, Alfred, 40 Jahre Schneider, Franz, 36 Jahre Unger, Lea, 43 Jahre Wolffberg, Kurt, 25 Jahre |
Strippels Karriere endete als SS-Obersturmführer (Oberleutnant). Ortner berichtet über weitere Verbrechen, die Strippel vorgeworfen wurden und wie er schließlich trotz seiner unstrittigen Beteiligung an den Erschießungen am 9. November 1939 mit über 120.000 Mark Haftentschädigung im Jahre 1969 das Gefängnis verlassen konnte. Strippel starb 1994 in Frankfurt am Main.
1 | Helmut Ortner (Hrsg.), Hitlers Schatten. Deutsche Reportagen, Gerlingen 2000 |
2 | Helmut Ortner, Der Hinrichter: Roland Freisler - Mörder im Dienste Hitlers, Göttingen 1995 |
3 | Helmut Ortner, Der Justizmord Sacco und Vanzetti. Zwei Italiener in Amerika, Frankfurt 1993 |
4 | Helmut Ortner, Der einsame Attentäter: Der Mann, der Hitler töten wollte, Frankfurt 1989 |
5 | Helmut Ortner, "Irgendwann muss doch auch mal Frieden sein", a.a.O. S. 80 ff |
6 | a.a.O. S. 85 f |
7 | Thomas Schattner, Strippels Blutspur durch Europas KZs - Sie begann vor 70 Jahren in Unshausen, im heutigen Schwalm-Eder-Kreis, in: Rundbrief des Fördervereins der Gedenkstätte Breitenau, Nr. 24, Kassel 2005, S. 57-62, www.gedenkstaette-breitenau.de/rundbrief/RB-24-57.pdf |
Dieser Artikel ist Teil der Online-Edition Mythos Elser.