Georg Elser war nur unser Kurier

War der Bundestagsabgeordnete Alfred Loritz für das Bürgerbräuattentat verantwortlich?

Im Dezember 1949 erklärte ein Bundestagsabgeordneter eher beiläufig, das Bürgerbräuattentat begangen zu haben. Er hieß Alfred Loritz und war Fraktionsvorsitzender der WAV. Dies war eine klassische Protestpartei rechts von der CSU, deren Fraktion sich noch in der ersten Legislaturperiode des Deutschen Bundestags auflöste. Über seine Mitverschwörer wollte er nichts sagen. Elser jedenfalls ist laut Loritz nur ein Kurier gewesen.


VON PETER KOBLANK (2010)

Im Rahmen einer Artikelserie namens "Das Spiel ist aus - Arthur Nebe" über die deutsche Kriminalpolizei im Dritten Reich befasste sich der "SPIEGEL" in der 14. Fortsetzung Anfang 1950 1 mit dem Bürgerbräuattentat. Es wurden verschiedene aus heutiger Sicht vollkommen unsinnige Spekulationen über die Urheberschaft angestellt, die dann aber allesamt durch das verblüffende Outing eines bayerischen Bundestagsabgeordneten als gegenstandslos erklärt wurden:

   Alfred Loritz
- dass es solche Leute gab Alfred Loritz

... Aber der SPIEGEL und sonstige interessierte Stellen hätten sich mit der Erforschung des Attentats keine Mühe zu machen brauchen. Der Attentäter ist Vorsitzender der bayrischen WAV, sitzt im Aeltestenrat des Bundestags zu Bonn und heißt Alfred Loritz.

Am 29. Dezember [1949], ½ 2 Uhr mittags, saß der gebürtige Münchner in der Gipfelgaststätte (mit dem höchsten und schmutzigsten Klosett Deutschlands) der Zugspitze und beschwerte sich über die Amerikaner. Im Schneefernerhaus dürfen nämlich nur Menschen I. Klasse speisen, also eben die Amerikaner.*)

Loritz mußte sich mit vier Weißwürsten und drei Schlürf-Eiern begnügen und unterhielt sich mit seinem Nachbarn. Er bekannte bescheiden, das Attentat begangen zu haben.

Wer noch daran beteiligt gewesen sei? "Die Namen sind bekannt. Aber ich bin hier, um mir den Großglockner und den Großvenediger anzuschauen. Sind Sie etwa Journalist?" - "Nein." - "Ja, ja, die Welt soll froh sein, dass es solche Leute gegeben hat. Die Alliierten wollten ja den Tod von dem Hitler gar nicht. Wenn ich anfangen wollte zu erzählen, wer den Hitler an die Macht gebracht und an der Macht gehalten hat...

"Der Halder, der Deutschland mit 6 Panzerdivisionen hat in den Krieg ziehen lassen, und der jeden Tag neben dem Hitler stand, schreibt seine Memoiren, und wir mussten uns sogar die Bombe selbst zusammenbasteln. Mit sechs Panzerdivisionen hat der Halder Deutschland in den Krieg ziehen lassen!"

Und der Elser? "Der war nur unser Kurier. Jetzt wollen wir uns aber lieber den Großglockner anschauen." Er zieht freundlich den Hut, grüßt den ganzen Tisch "Auf Wiederschauen" und geht. ...

*) Abgeordnete des Bundestages haben zum Gipfel keine freie Fahrt, sondern zahlen wie jeder andere Deutsche 20 DM ab Garmisch. Amerikaner zahlen 2 Dollar = 8,40 DM.

Bereits am 9.12.1948 hatte sich Alfred Loritz gegenüber der Süddeutschen Zeitung beschwert: "Es ist eine Unverschämtheit abzustreiten, dass ich der Leiter des Attentats war." 2 Und am 21.7.1949 schrieb die Süddeutsche Zeitung, der CSU-Bezirksverband Oberfranken habe auf seiner letzten Tagung in Lichtenfels die Aufklärung des Bürgerbräuattentats gefordert, dessen sich Alfred Loritz wiederholt gerühmt habe. Man wolle wissen, ob "Alfred Loritz sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht habe". 3


Wer war Alfred Loritz?

Alfred Loritz (* 24. April 1902 in München; † 14. April 1979 in Wien) saß zu diesem Zeitpunkt zwar nicht im Ältestenrat des Deutschen Bundestags, war aber immerhin Fraktionsvorsitzender der von ihm selbst in Bayern gegründeten Partei Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung (WAV). 4

Nach dem Abitur 1921 in München studierte er Rechtswissenschaften und ließ sich als Rechtsanwalt in München nieder. Ab 1928 war er Mitglied und zeitweise auch Landtagsabgeordneter der Reichspartei des deutschen Mittelstandes (Wirtschaftspartei) in Bayern. Die Partei schloss ihn jedoch am 27. Mai 1932 wegen "querulatorischen Verhaltens" aus.

Nach 1933 hatte Loritz Kontakt zu mehreren Widerstandsgruppen. 1939 wurde er aus der Anwaltskammer ausgeschlossen und floh in die Schweiz.

Nach dem Krieg gründete er die WAV und wurde deren erster Vorsitzender. Er wurde 1946 in die Verfassunggebende Landesversammlung Bayerns gewählt und gehörte dem ersten Bayerischen Landtag an. Von Dezember 1946 bis Juni 1947 war er Bayerischer Staatsminister für Entnazifizierung.


Was für eine Partei war die WAV?

Die WAV war eine Splitterpartei, die sich an den Mittelstand richtete. Loritz wollte mittels populistischer Versprechungen vor allem diejenigen ansprechen, die durch die Folgen des Krieges stark betroffen und finanziell schlecht situiert waren. Dem Programm der WAV zufolge sollten ehemalige Nationalsozialisten und sehr Reiche enteignet werden. Der Mittelstand sollte vor der Großindustrie geschützt werden, die Arbeiterschaft einen Mindestlohn erhalten. Volksabstimmungen über jedes Gesetz sollten an Stelle der repräsentativen Demokratie treten. Der "SPIEGEL" schrieb 1979 5 in einem Nachruf:

Wie ein schweifender Geist hastete der hagere, zappelige Mann von Wirtshaussaal zu Wirtshaussaal und versprach dem versprengten, orientierungslosen und hungernden Volk, die "Lebensmittelkarten abzuschaffen" und "mindestens 10 000 unfähige und korrupte Beamte" zu entlassen.

So konnte er leicht die traditionsreichen Münchner Bräusäle wie den Mathäser und den Bürgerbräukeller füllen. Auf dem Königsplatz übte er unter den Klängen von Marschmusik Basisdemokratie: 50 000 Zuhörer forderten bei "einer Gegenstimme und zehn Enthaltungen" den "sofortigen Rücktritt der bayerischen Staatsregierung".

Dieser hatte er zuvor selbst angehört, auf dem undankbaren Posten eines Sonderministers für Entnazifizierung. Im Amt wollte er zusammen mit seinen zwölf Fraktionskollegen zuvorderst die "Allmacht der Presse" beseitigen, die "Macht der Abgeordneten" stutzen, die "alten politischen Parteien" säubern und auch noch alle "Versager vor 1933" entfernen.

Nach einer Verhaftung wegen Schwarzmarktgeschäften konnte Loritz im September 1947 aus der Untersuchungshaft fliehen. Seine Flucht begründete er damit, dass man ihn in der U-Haft habe ermorden wollen. Er leitete seine Partei aus dem Untergrund und wurde ein Jahr später im Rahmen einer Großfahndung mitternachts in Frauenkleidern auf der Theresienwiese erneut gefasst. Von den ursprünglichen Vorwürfen wurde er freigesprochen, aber wegen seine Flucht und Hafthinterziehung zu drei Monaten Gefängnis verurteilt.

Seine Wahl in den Bundestag rettete ihn für eine Legislaturperiode vor der Justiz. 1949 bis 1953 war er Bundestagsabgeordneter und zunächst Fraktionsvorsitzender der WAV.

Da die 5%-Hürde damals noch pro Bundesland galt, konnte die WAV 1949 angesichts von 14,1 % der Stimmen in Bayern mit 12 Mandaten in den Bundestag einrücken. Dieser Erfolg basierte vor allem auf einem Wahlbündnis mit dem Neubürgerbund, der die Interessen der Vertriebenen und Flüchtlinge in Bayern vertrat. Da die Alliierten keine eigene Partei der Vertriebenen und Flüchtlinge gestatteten, wurden Vertreter des Neubürgerbundes auf die Liste der WAV gesetzt. Viele Vertriebene gaben deshalb ihre Stimme der WAV.

Bundestagswahl 1949
Bundestagswahl 1949

Im Juni 1951 wurde Loritz aus der WAV-Fraktion ausgeschlossen, weil er eine Fusion mit der Sozialistischen Reichspartei (SRP) 6 plante. Nachdem er im September 1951 trotzdem als WAV-Parteivorsitzender wiedergewählt wurde, löste sich die Fraktion durch Übertritt zur Deutschen Partei (DP) auf.


Gescheiterter Neustart in Bremen, Asyl in Österreich

1955 versuchte Loritz einen politischen Neustart in Bremen. Er wurde jedoch wegen Anstiftung zum Meineid und zur Falschbeurkundung bei der Einreichung eines Wahlvorschlages für die Bremische Bürgerschaft angeklagt. In diesem Verfahren verlor er Ende der fünfziger Jahre endgültig alle Reputation. Vor Haftantritt konnte er nach Österreich fliehen. Das Urteil, dreieinhalb Jahre Zuchthaus wegen Anstiftung zum Meineid, wurde später vom Bundesgerichtshof aufgehoben.

Dennoch fahndete Interpol jahrelang nach dem Flüchtigen. Am Weihnachtsabend 1961 wurde er in Salzburg aus dem Transalpin-Expreß heraus verhaftet. Österreich widersetzte sich dem deutschen Auslieferungsgesuch und gewährte ihm politisches Asyl. Seinem kometenhaften Aufstieg in den Anfangsjahren der Bundesrepublik war der tiefe Fall in die politische Bedeutungslosigkeit gefolgt. Alfred Loritz starb 76-jährig in einem Spital in Wien.

Es ist gewiss nicht unsere Aufgabe, über diesen ungewöhnlichen Mann zu richten. Dass aber in Wirklichkeit er, der 1939 bereits in die Schweiz geflüchtet war, am Bürgerbräuattentat beteiligt und Georg Elser nur sein Kurier war – dies kann man nach all dem, was wir heute über diesen Anschlag wissen, mit 100%-iger Sicherheit ausschließen.


Der "SPIEGEL" und Georg Elser

  
SZ 21.7.1949
Süddeutsche Zeitung vom 21.7.1949 Seite 3
Anscheinend setzte sich in der "SPIEGEL"-Redaktion später die Selbsterkenntnis durch, dass ihre aus der Luft gegriffenen Spekulationen über das Bürgerbräuattentat in der Ausgabe 1/1950 – gipfelnd in der unsinnigen Behauptung, man brauche sich mit der Erforschung des Attentats keine Mühe mehr zu machen, da ja Alfred Loritz der Attentäter gewesen sei – unhaltbar waren.

So erklärt sich auch, dass das Nachrichtenmagazin in den nachfolgenden Jahrzehnten kein einziges Wort mehr über die Hintergründe des Bürgerbräuattentats veröffentlichte.

Der Journalist Erwin Roth 7, der Mitte der 1950-er Jahre Chefredakteur der "Heidenheimer Zeitung" war und damals dem "SPIEGEL" seine fundierten Rechercheergebnisse über Elser anbot, bekam von dessen Herausgeber Rudolf Augstein folgende Antwort: "Das Attentat im Bürgerbräukeller beschäftigt mich schon seit längerem, ich habe in dieser Sache auch einmal einschlägig gearbeitet. Leider sind die Zusammenhänge so wenig aufzuhellen, dass wir uns nichts davon versprechen können, das interessante Thema anzupacken." 8


Hans oder Alfred - das ist hier die Frage

In seiner 1999 erschienenen Elser-Biografie 9 setzte Hellmut G. Hassis das Gerücht in die Welt, Hans Loritz, der ehemalige KZ-Kommandant von Esterwegen, Dachau und Sachsenhausen, habe sich vor seinem Selbstmord im Januar 1946 damit gebrüstet, das Bürgerbräuattentat ausgeführt zu haben. In seiner Neuauflage von 2009 10 ergänzte er diese Behauptung mit einer Karikatur, die am 21.7.1949 in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt wurden war.

Da hätte Haasis lieber ein bisschen genauer recherchieren sollen... 11


1Das Spiel ist aus - Arthur Nebe, in: DER SPIEGEL 1/1950 vom 5.1.1950, S. 25.
2Zitiert nach Ulrike Albrecht, Johann Elser und das Attentat auf Hitler im Bürgerbräukeller am 8. November 1939, in: Materialien zur Haidhauser Geschichte, Band 3, München 1987, S. 87.
3Peter Koblank, Der KZ-Kommandant und das Bürgerbräu-Attentat, in: Online-Edition Mythos Elser.
4Peter Jakob Kock, Alfred Loritz - Mischung aus Karl Valentin und Adolf Hitler, in: Maximilianeum, Aus dem Bayerischen Landtag, München 1999, S. 27 ff.
5Alfred Loritz †, in: DER SPIEGEL 47/1979 vom 19.11.1979, S. 284.
6Die SRP war eine nationalsozialistische Partei, in der Ernst Remer, der am 20. Juli 1944 wesentlich zum Scheitern der Operation Walküre beigetragen hatte, eine führende Rolle spielte. Die SRP war die erste Partei, die in der Bundesrepublik Deutschland verboten wurde (am 23. Oktober 1952 wegen ihrer offenen Bezugnahme auf die NSDAP). 1956 folgte mit dem KPD-Verbot das zweite Parteiverbot der BRD.
7Erwin Roth, Georg Elser - die Hand am Rad der Geschichte in: Heidenheimer Zeitung 21.4.1956.
8Ulrich Renz, Georg Elser - Ein Meister der Tat, Leinfelden-Echterdingen 2009, S. 98.
9Hellmut G. Hassis, Den Hitler jag ich in die Luft. Der Attentäter Georg Elser, Berlin 1999, S. 247.
10Hellmut G. Hassis, Den Hitler jag ich in die Luft. Der Attentäter Georg Elser, Hamburg 2009, Bild Nr. 31.
11Peter Koblank, Der KZ-Kommandant und das Bürgerbräu-Attentat, in: Online-Edition Mythos Elser.

Dieser Artikel ist Teil der Online-Edition Mythos Elser.